StartseiteMagazinGesellschaftDas 21. Jahrhundert neu erfinden

Das 21. Jahrhundert neu erfinden

«Wer will besser sein als die andern?» Diese Frage steht über einer Auswahl von Arbeiten der Künstlergruppe «Rimini Protokoll» aus mehr als zwei Jahrzehnten. Das Kunstmuseum Solothurn präsentiert sie.

«Stücke, in denen die Besucherin geführt wird», so bezeichnet Stefan Kaegi, einer der drei Rimini Protokoll-Schaffenden, die einzelnen Teile der Ausstellung. «Geführt werden» ist allerdings nur die Einführung. Das Wichtigste, Wahrnehmen, Nachdenken, Stellung beziehen, bleibt die aktive Aufgabe der Besucherinnen und Besucher. Rimini Protokoll provoziert nicht in dem Sinne, dass ihre Arbeiten – Installationen, Performances – schockieren sollen, vielmehr regen sie dazu an, mithilfe neuer Impulse die eigenen Ansichten zu prüfen und – vielleicht – zu revidieren.

Entstanden ist eine Werkschau, inszeniert als multimediale Installation. Durch die verschiedenen Räume der zehnteiligen Ausstellung im Parterre des Kunstmuseums zu schlendern, ohne sich auf die Stationen einzulassen, ohne die Kopfhörer oder die Augmented-Virtuality-Brille aufzusetzen, wäre verschwendete Zeit. Es wäre, als wenn Sie die Tagesschau gesehen hätten und sich am Ende höchstens an die Wetterprognose erinnern würden.

Rimini Protokoll, Feast of Food © Rimini Protokoll

Rimini Protokoll hat den Anspruch, Sie hineinzuziehen in einige der gesellschaftlichen Themen, die uns in diesem Jahrtausend bedrängen. Die Gesellschaft besteht in der Schweiz aus über acht Millionen Menschen, und wohin uns die Zukunft führt, betrifft uns alle.

Wer ist Rimini Protokoll?

Helgard Haug (geb.1969), Stefan Kaegi (geb.1972) und Daniel Wetzel (geb.1969) haben unter dem Label Rimini Protokoll seit mehr als zwanzig Jahren gemeinsam über 130 Projekte konzipiert, die in vielfältigen Adaptionen um die Welt reisen. Diese Projekte sind zwischen Theater, Kunst, Gesellschaft und Forschung angesiedelt, sie sprengen konventionelle Kategorien, sie rütteln auf und rühren erfrischend an unserer Bequemlichkeit.

Portrait Rimini Protokoll 2012 in Zürich:  (von links) Stefan Kaegi, Helgard Haug, Daniel Wetzel. © David von Becker / commons.wikimedia.org

Warum sie diesen Namen gewählt hätten, fragte ich Stefan Kaegi. Er gab mir keine erschöpfende Antwort, sagte nur, zu den drei «O» in Protokoll passe doch ein Wort mit drei «I» ganz gut. Da steckt eine gewisse Ironie dahinter, scheint mir. – Aber ist es nicht so: Jahrzehntelang haben wir uns auf unserem Wohlstand ausgeruht, Ferien am Mittelmeer war für eine ganze Generation der Höhepunkt des Jahres. Erst spät müssen wir nun erkennen, dass es so nicht weitergehen kann. «Rimini wie vor fünfzig Jahren» kann kein Ziel mehr sein.

100% Solothurn

Dem Grundsatz, die Menschen zu berühren und zu beteiligen, folgt das Demographie-Projekt 100% Stadt, das nun in Solothurn realisiert worden ist: Wie in anderen Städten hat 100% Solothurn mit einer Kettenreaktion begonnen: Über Monate haben sich durch Weiterempfehlungen 100 Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt gefunden, die der lokalen Statistik in punkto Alter, Zivilstand, Geschlecht und Nationalität (nach Pass) entsprechen. Anders als in den meisten Stadt-Projekten treffen die 100 Solothurnerinnen und Solothurner nicht auf einer Theaterbühne zusammen, sondern im städtischen Kunstmuseum. Vertreten werden sie hier durch einen selbst ausgewählten Gegenstand.

Rimini Protokoll, 100% Solothurn (Simret Abraham und ihr traditionelles Teeservice) © Stefan Holenstein

Präsent sind sie darüber hinaus in einer Publikation, in der die 100 Menschen Stellung beziehen: Wer glaubt an Gott oder wer würde gern Solothurn regieren? Wer hat schon mal einen Krieg aus nächster Nähe erlebt oder war schwer krank?

Durch Piktogramme der ausgewählten Gegenstände lassen sich die individuellen Antworten der Personen auf Fragen von Rimini Protokoll aufschlüsseln. Das Publikum kann sich durch die bunte Auslegeordnung der Dinge im Museum und das bewegte Umfrage-Gebilde in der Publikation ein Bild von Solothurn machen, das mit anderen Städten vergleichbar wird und zugleich die Eigenarten der Stadt am Jurafuss aufzeigt.

Rimini Protokoll weltweit

Wie das Projekt in Tokio, Melbourne, São Paulo, dem taiwanischen Kaohsiung oder estnischen Narva ablief, lässt sich in einem Video nacherleben. In Solothurn ist ein Zusammenschnitt der über vierzig Städteaufführungen und ihrer dynamischen Gruppenbilder zu sehen. Die notwendigen Erklärungen liegen in Informationsblättern vor. – Zuzuschauen, wie sich auf der Bühne die beteiligten Personen auf die Frage «Wer hat schon einmal Gewalt erlebt?» unter «Ja» oder «Nein» zusammenfinden, bewegt die Zuschauende unwillkürlich.

In den anderen Stationen geht es um globale Netzwerke von Waffenhandel und Lebensmittelindustrie, um Klimawandel und Migration. Es ist das erste Mal, dass eine solche Reihe eigenständiger Arbeiten von Rimini Protokoll für mehrere Monate in einer Ausstellung zugänglich wird. Sie deckt Zusammenhänge auf, denen sich Rimini Protokoll seit dem Jahr 2000 widmet. Dabei ergeben sich brisante Erkenntnisse: Die Station «Waffenhandel», wo der Schreibtisch des grössten Schweizer Waffenhändlers und -produzenten nachgebaut wurde, zeigt auf, welche Folgen der Waffenhandel hatte – das Projekt entstand vor mehr als 10 Jahren -, in Afghanistan, in Sierra Leone oder in Mexiko. Unweigerlich stellt sich diese Frage heute von Neuem in einer unerwarteten, brisanten Konstellation.

Temple du présent – Solo für einen Oktopus

Im Anschluss an das Projekt Feast of Food (Lebensmittelindustrie) entwickelten Rimini Protokoll und das Schweizer Forschungslabor ShanjuLab eine Arbeit, die wissenschaftliche Beobachtung und Interaktion zwischen Mensch und Tier verbindet. Dazu siedelten sie einen Oktopus, auf dem Fischmarkt von Agde vor dem Tod auf dem Teller gerettet, vorübergehend in ein 1300-Liter Salzwasserbecken auf einer Theaterbühne in Lausanne um.

Rimini Protokoll, Temple du présent © Philippe Weissbrodt

Hier begegnete der Oktopus der Performerin Nathalie Küttel – zugleich Tierpflegerin und Künstlerin -, bevor er ins Meer zurückkehren durfte. Für eine gewisse Zeit wurde der Oktopus in seinem Aquarium zum neugierigen, tanzenden Star einer Aufführung, die er durch seine Spontaneität und seinen Lebenswillen gestaltete. Oktopusse sind von Natur aus an ihrer Umgebung interessiert. Die Videoschau zeigt, wie Mensch und Tier, die Performerin und der Oktopus, miteinander interagieren, und dieses Spiel gehört zu den berührendsten Teilen dieser Ausstellung. Hier verbindet sich die Schönheit der Natur mit der Eleganz der Bewegung von Oktopus und Künstlerin.

Projekt Evros Walk Water pt. 1

Der Fluss Evros trennt Griechenland und die Türkei und damit Asien von Europa. / Rimini Protokoll, Evros Walk Water © Daniel Amman (Aufnahme aus Schloss Werdenberg SG)

Für diese Installation, entstanden 2015 um ein Schlauchboot herum, erarbeiteten Rimini Protokoll in Athen mit jungen Geflüchteten ein Bühnenbild und ein Hörstück. Das dreiminütige Werk Water Walk des experimentellen Musikers John Cage aus dem Jahre 1960 diente als klingender Parcours von Objekten, die das Mittelmeer, seine Wellen und damit den Kontext aktueller Migrationsströme symbolisieren.

Die Ausstellung Rimini Protokoll im Kunstmuseum Solothurn dauert noch bis  30. April 2023.

Titelbild: Rimini Protokoll, 100% Stadt (Klagenfurt) © Arnold Pöschl

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