«Postcards from Europe» heisst die aktuelle Ausstellung im Berner Kornhausforum. Aber es sind keine postalischen Feriengrüsse aus dem Süden, sondern beklemmende Aufnahmen von Migrations- und Fluchtorten zu sehen.
Die deutsche Fotografin Eva Leitolf hat mit ihrer Kamera jene Orte in Europa und an den europäischen Aussengrenzen dokumentiert, die von Flucht und Migration geprägt sind. Von Flüchtenden oder Migranten ist indes nichts zu sehen. Stattdessen zeigen die Fotos grüne Wälder, trockene Wiesen und Küsten in goldenem Licht, oder von Menschen entleerte Strassen und Plätze.
Erst, wer den Blick auf den Stapel von Postkarten wirft, der neben jeder Fotografie liegt, realisiert, dass es sich um Flucht- und Migrationsorte handelt. Die Flucht selber, die Details der Migration, werden der Vorstellung der Besuchenden überlassen. «Postcards from Europe» ist ein Projekt, das die Möglichkeiten sowie Grenzen visueller Vorstellung intelligent auslotet. Was Flüchtende erleben, wie schlimm ihre Erfahrungen sind, wie ihre Flucht endet, ist auf den Fotos nicht zu sehen. Man muss sich die Umstände im Kopf vorstellen.
Kopfkino vom Besten
Unweigerlich bringt uns Eva Leitolf dazu, unsere ersten Eindrücke der dokumentierten Szenen zu revidieren. Der Strand ist kein Badestrand, sondern das Grab Dutzender ertrunkener Flüchtlinge. Die aufgeschichteten Holzleitern wurden nicht von Erntehelfern benutzt, sondern von Menschen beim Überwinden eines Grenzzauns. Mit ihrer Täuschung kombiniert die Fotografin dokumentarische und konzeptuelle Strategien der Fotografie miteinander. Und schafft die Voraussetzungen für ein Kopfkino.
Die Geschichten hinter den Fotos
Die Ausstellung beschäftigt sich nicht direkt mit dem Schicksal flüchtender Menschen, sondern fragt nach der Art und Weise, wie die Länder Europas auf Migrationsbewegungen reagieren und diese zu unterbinden versuchen. In Ostdeutschland verweigern Bürgerinnen und Bürger den Verfolgten eine Unterkunft. In Ungarn beteiligen sich einheimische Jäger an der Menschenjagd. An spanischen Stränden werden seit Jahren Leichen von ertrunkenen Flüchtlingen angeschwemmt. Den betroffenen Gemeinden bleibt die traurige Aufgabe der Beisetzung von Unbekannten.
Die Recherchereisen zum Projekt führten Eva Leitolf in die spanischen Enklaven Melilla und Ceuta an der nordafrikanischen Küste, ins ungarische Grenzgebiet, ins südliche Italien, nach Griechenland und in die Hafenstädte Calais und Dover, ebenso wie nach Deutschland und Österreich. Die Ergebnisse hat sie mit der Kamera festgehalten. Die Fotos sind in ihrer zurückhaltenden, formellen Kompositionen von einer forensischen Qualität geprägt, durch welche den Ereignissen auf ganz andere Weise Bedeutung zurückgegeben wird.
Statt knallig einladend, sind die Fotos beklemmend, abweisend, kalt. Bei bedecktem Himmel oder in schwarzer Nacht wirken sie matt, getönt, gespenstisch, vergilbt, abgeschossen. Der Situation angepasst, sprechen sie eine dramatische Sprache, unheil- sowie geheimnisvoll. Man erahnt die Tragödien, spürt den Tod, der über den Stränden, den Wiesen, den Strassen und Plätzen liegt. Jedes Bild erzählt eine andere, traurige Geschichte, die auf den ausgelegten Postkarten tagebuchartig dokumentiert ist.
Überfahrt, Melilla – Almeria, 2009
Am 10. Januar 2009 nahm die Fotografin die Fähre «Juan J. Sister» vom Hafen Melillas (spanische Enklave in Marokko) nach Almeria, Spanien. Ganz bewusst folgt sie der Fluchtroute von Zehntausenden von Menschen. Laut der italienischen Organisation «Fortress Europe» sind in den Jahren 1988 bis 2007 mindestens 14 714 Flüchtlinge im Mittelmeer, im Atlantischen Ozean, auf dieser Route ertrunken, alle unterwegs nach Spanien. Auf dem Foto sind leere Liegen zu sehen, der weite Horizont verstärkt die Fantasie. Was wohl hier im Meer, unter grauem Himmel in den vielen Jahren alles passiert ist?
Leitern, Melilla 2206
Das nächste Foto zeigt einen Haufen mit altem Holz. Im Herbst 2005 wurde bekannt, dass die spanische Regierung die Sicherungsanlagen um die spanische Exklave Melilla verstärkte. Im Zuge dieser Arbeiten wurden selbst gebaute Leitern konfisziert und auf einem Haufen gestapelt. Mithilfe dieser Leitern hatten Flüchtlinge den Grenzzaun überwunden. Laut Zeugenaussagen setzte die Guardia Civil elektrische Keulen, Tränengas, Gummigeschosse, ja sogar scharfe Munition ein, um die Flüchtenden zurückzuhalten. Als Abschreckung stellten die spanischen Behörden die aufgeschichteten Leitern medienwirksam zur Schau.
Playa de Los Lances, Tarifa, Spanien, 2009
In einem anderen Sturm sank am 1. November 1988 ein Boot mit 23 marokkanischen Einwanderern am Strand von Tarifa. Die meisten Fliehenden verschlang das Meer, sie blieben bis heute verschwunden. In Los Lances wurden zehn Ertrunkene an Land gespült. Im September 1997 sank unweit der Stelle ein weiteres Boot mit 30 Flüchtlingen. 14 Personen ertranken bei diesem zweiten Unglück. Heute erholen sich an dem Strand Hunderte von Touristinnen, Touristen. Wellenreiter und Surfer frönen ihrem Hobby, ohne zu wissen, welche Tragödien sich an dem Sandstrand einst abgespielt hatten. Eine zerrissene Flagge flattert unscheinbar im Wind.
Plantage, Rosarno, Italien 2010
Kalabrische Bauern beschäftigten während der Orangenernte illegal eingereiste Flüchtlinge aus Osteuropa und Afrika. Auch unter dem abgebildeten Orangenbaum. Während der Erntesaison lebten vier- bis fünftausend Immigranten in und um Rasarno, in einfachen Hütten, unter schlimmsten hygienischen Bedingungen. Am 7. Januar 2010 schossen lokale Jugendliche mit einem Luftgewehr auf zurückkehrende, schwarze Orangenpflücker und verletzten zwei von ihnen schwer. In den darauffolgenden Tagen wurden auf mehrere Flüchtlingsunterkünfte Brandanschläge verübt. Die italienischen Behörden mussten Hunderte von Immigranten evakuieren.
Wohngenossenschaft Sandersdorf, Deutschland 2014
Im Jahr 2013 versuchte der ostdeutsche Landkreis Anhalt-Bitterfeld, Asylbewerber nicht mehr zentral, sondern dezentral bei Privatpersonen unterzubringen. Da zeigte sich das hässliche Gesicht der ehemals kommunistischen Musterschülerinnen und Musterschüler: Trotz grosser Bemühungen der Behörden stiess die Aktion auf massiven Widerstand in der Bevölkerung. Die Wohngenossenschaft Wolfen (Foto) mit rund 6000 Wohnungen lehnte jede Zusammenarbeit mit dem Landkreis ab. Je grösser die Kommunen, desto heftiger war der Widerstand. Die Flüchtlinge mussten schliesslich anderswo untergebraucht werden.
Jägerhochsitz in Ungarn, 2009
In der ungarischen Region Beregsurany / Tarpa gehören illegale Grenzübertritte zur Tagesordnung. Schlepper bringen die Flüchtlinge bis an die Grenze und überlassen sie dort dem Schicksal. Im Dunkeln der Nacht gehen sie über die Grenze. In der Gegend wird auch gejagt. Dabei arbeiten die Jäger mit den Grenzbehörden zusammen und melden alle mit Nachtsichtgeräten entdeckten Flüchtlinge der Polizei. Nach Aussage des Leiters der lokalen Grenzstation ist die Zusammenarbeit seiner Behörde mit der Bevölkerung ausgezeichnet. Bei den nächtlichen Überwachungsmassnahmen benehmen sich die Jäger wie eine Bürgerwehr. Der Hochsitz steht ebenso trotzig wie abweisend in der Landschaft.
Lehrtätigkeit an der Hochschule für Kunst und Design in Luzern
Kuratiert wurde die Ausstellung im Kornhaushausforum Bern (Foto PS) von Rebecka Domig. Die Fotografin Eva Leitolf (geb. 1966) studierte Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie an der Universität GH Essen. Am California Institute of the Arts erwarb sie den Master of Fine Arts. Sie unterrichtete regelmässig an internationalen Universitäten und Kunsthochschulen, so auch an der «Hochschule für Kunst und Design» in Luzern. 2019 wurde sie ordentliche Professorin an der Freien Universität Bozen.
2016 erhielt sie den Kunstpreis der Landeshauptstadt München; 2017 ein Projektstipendium der VG Bild-Kunst für eine Fortführung des Projekts «Postcards from Europe/Germany»; 2019 wurde sie für den renommierten Prix Pictet nominiert.
Titelbild: Nachts am türkisch-griechischen Grenzübergang Kastanies, wo Migrantinnen und Migranten bis 2011 ebenso unkontrolliert wie gefahrlos über zwei Brücken nach Griechenland einreisen konnten. Alle Fotos: © Eva Leitolf
LINK: Kornhausforum
Die Ausstellung in Bern wird noch bis zum 30. Juli 2023 gezeigt, Eintritt frei.