Max Frischs Stück «Andorra» wurde 1961 in Zürich uraufgeführt und seitdem über viele Jahre auf vielen Bühnen gezeigt. Wie das Stück heute wirkt, können wir zur Zeit im Theater an der Effingerstrasse Bern erleben.
Es sei gleich vorweggenommen: «Andorra» ist heute ebenso aktuell, ja schockierend nah an der Realität. Wir erinnern uns: Max Frisch hatte den Stoff schon in seinem «Tagebuch 1946-49» notiert, als das Entsetzen über die Verbrechen der Nationalsozialisten noch loderte wie davor die Feuer in Auschwitz und Birkenau.
Auch die Jahre um die Uraufführung sind geprägt von der Aufarbeitung der Nazizeit und der juristischen Abrechnung mit einigen Schuldigen. In Jerusalem beginnt 1961 der Prozess gegen Adolf Eichmann. Im wichtigsten Gerichtsverfahren in Deutschland gegen NS-Angehörige, im Frankfurter Auschwitzprozess des hessischen Generalanwalts Fritz Bauer werden 22 Menschen angeklagt. Dieser Prozess benötigte eine lange Vorbereitung, war aber 1961 schon im öffentlichen Gespräch.
Von links nach rechts: Wolfgang Seidenberg, Kornelia Lüdorff, Karo Guthke, Peter Schibli und Pascal Goffin
Max Frisch nimmt diese Ereignisse auf originelle Weise in die Dramaturgie seines Stückes auf: Er schiebt zwischen die Bilder «Zeugenaussagen» ein, die sich selbstverständlich auf «Andorra», nicht auf die juristische Wirklichkeit beziehen. So charakterisieren sich die Charaktere des Dramas selbst – und entlarven sich in ihren Vorurteilen, ihrer Borniertheit oder einfach ihrer Hilflosigkeit.
Banalität und menschliche Abgründe – nah nebeneinander
1961 wurde «Andorra» als gewichtiges Theater gegen den Antisemitismus und gegen Fremdenhass allgemein angesehen. Mit Entsetzen erkennen wir heute, dass der Antisemitismus wiederauflebt, unerträglich und untolerierbar. Ein Schweizer Autor wie Max Frisch (1911-1991) hatte nicht nur die Geschichte der europäischen Nachbarländer im Blick, sondern seine Heimat. Er schreibt selbst: «Das Andorra dieses Stücks hat nichts zu tun mit dem wirklichen Kleinstaat dieses Namens, . . . Andorra ist der Name für ein Modell.»
Kornelia Lüdorff, Aaron Frederik Defant und Karo Guthke
Die Gesellschaft in der Schweiz ist von diesem Modell weniger weit entfernt, als wir es uns wünschen würden. Wie schnell sich Menschen an Vorurteile klammern und darüber vergessen, was den Mitmenschen wirklich ausmacht; wie schnell in der Folge der Zusammenhalt der Gesellschaft verloren geht und die Angst vor dem Fremden überhand nimmt, das zeigt uns Frisch in seinem Stück. Last, but not least, durchzieht auch dieses Werk Frischs Lebensthema: Wer bin ich, was gehört zu meiner Identität, wandelt sich mein Ich im Laufe meiner Existenz. – Der Mensch, wie er sich sieht, und wie er sich in Beziehungen spiegelt, sich in die Gesellschaft einfügt oder Aussenseiter bleibt, darum ringt der Autor immer wieder.
«Warum seid ihr stärker als die Wahrheit?»
Andri, einer der wichtigsten Charaktere dieses Stückes, -«Helden» gibt es keine, auch nicht die «Hauptrolle», – fragt an einer Stelle: «Warum seid ihr stärker als die Wahrheit?». Und kann aus der Sicht des jungen, lebenshungrigen Mannes die Tragweite seiner Frage nicht ermessen. Denn seine Wahrheit, die, mit der er aufgewachsen ist, ist eine Lüge:
Aaron Frederik Defant
Er ist nicht der jüdische Adoptivsohn des Lehrers, den dieser aus dem Land der Schwarzen über die Grenze gerettet haben will. Andri ist der uneheliche Sohn des Lehrers. Dieser wollte sein Kind in Sicherheit bringen, was er am bequemsten mit dieser Lüge erreichen konnte.
Die Tragik des jungen Andri liegt darin, dass er sein Leben lang Jude zu sein hatte, ihm alle – den Andorranern suspekten – jüdischen Eigenschaften zugeschrieben wurden, so dass er sie annehmen musste. Andri musste eine «Wahrheit» lernen, die nicht die seine ist. Ganz prinzipiell stellt sich ihm die Frage nach der eigenen Identität und woraus diese sich bildet. Plötzlich, mit dem Besuch seiner Mutter, wird eine neue Wahrheit bekannt, die für Andri nach 20 Jahren Indoktrination als scheinbarer Jude nicht mehr annehmbar ist, das Verhängnis folgt unvermeidlich. Auch die andorranische Gesellschaft scheitert, zu sehr von Angst gelähmt, hatte sie sich an Vorurteilen, kleinlichen Vorteilen und Arroganz festgeklammert.
Esrah Uğurlu, Wolfgang Seidenberg im Vordergrund, Peter Schibli und Pascal Goffin im Hintergrund
Unschuldig, aber aus allen Sicherheiten gestossen, erniedrigt durch den Soldaten und deshalb am Ende um den Verstand gebracht, bleibt nur Barblin zurück, die unbezweifelte Tochter des Lehrers. Am Anfang und am Ende des Stücks hantiert sie mit der Farbe der Unschuld: Sie weisselt. Zuerst die Kirche, zuletzt alle Andorraner und Andorranerinnen. Darin liegt sogar ein Gran bitterer Komik in diesem so ernsten Stück.
Einfache Räume für einen schwierigen Inhalt
Wie bringt ein Kleintheater ein solches Drama auf die Bühne? Zuerst einmal mit legitimen Streichungen, die den Gehalt und Ablauf des Stückes bewahren – mehr wäre zu viel gewesen. Mit einem aufs Wesentliche klug reduzierten Bühnenbild, dem Dorfplatz mit der Öffnung zum Wirtshaus. Dort findet die Handlung statt. Die Kirche, vom Pfarrer in einem Sack mit Legofiguren auf den Tisch gestellt, symbolisiert ihren verlorenen Wert, und das gilt auch für den Pater selbst.
Aaron Frederik Defant und Esrah Uğurlu
Auch das Schauspielerteam ist reduziert: Aaron Frederick Defant, der Andri berührend und überzeugend darstellt, und Esrah Uğurlu, deren Barblin ebenso sympathisch wie lebensecht auf die Bühne kommt, spielen nur ihre Rolle. Wolfgang Seidenberg, Lehrer und Pater, muss zwischen beiden Rollen wechseln, was ihm mühelos gelingt. Pascal Goffin, skrupelloser, übergriffiger Soldat und Arzt, verkörpert zwei scheinbar gegensätzliche Rollen, die doch in ihrer Arroganz verbunden sind. Karo Guthke verkörpert vor allem die Wirtin in ihrer Scheinheiligkeit sehr glaubwürdig, die Rolle der Mutter ist in dieser Inszenierung nur klein.
Esrah Uğurlu und Wolfgang Seidenberg, Karo Guthke, Peter Schibli
Kornelia Lüdorff als kalte, berechnende Tischlermeisterin überzeugt ebenso wie als Señora, Mutter von Andri, als elegante, weltläufige Frau. Den Rollenwechsel spielt sie souverän. Von den übrigen Personen bleibt nur «Jemand», dargestellt von Peter Schibli, den Seniorweb-Lesende als leidenschaftlichen Theaterspieler kennen. Keine leichte Rolle, muss doch dieser «Jemand» gleichsam als Echo der abwesenden Andorranerinnen und Andorraner agieren. Es gelingt ihm, zumal er sich wohl auch als Bindeglied zum Publikum versteht, ein geschickter Schachzug der Regie. Dem erfahrenen Regisseur Wolfgang Hagemann ist hier eine Inszenierung ohne Fehl und Tadel gelungen. Der Beifall, der allen auf und hinter der Bühne galt, war herzlich, zugleich respektvoll angesichts dessen, dass der Inhalt eher zum Nachdenken als zum Jubeln anregt.
«Andorra» von Max Frisch im Theater an der Effingerstrasse Bern.
Aufführungen finden noch bis 29. November 2024 statt.
Tickets hier. Das Theater ist vom Bahnhof Bern gut erreichbar, zu Fuss oder mit dem Tram.
Alle Fotos: © Severin Nowacki (Effingertheater)