StartseiteMagazinLebensartProtokoll eines assistierten Suizids

Protokoll eines assistierten Suizids

Wie verläuft ein von EXIT begleiteter Freitod? Auf Wunsch einer schwer kranken Bekannten war Seniorweb-Mitarbeiter Peter Schibli im vergangenen Oktober beim assistierten Suizid der lebenssatten Frau anwesend und hat seine Eindrücke aufgezeichnet.

Im April 2019 erfuhr Frau A., dass sie an einem unheilbaren Nieren- und Lungenkrebs leidet. Bereits hatten sich in ihrem Körper Metastasen gebildet. Seit 30 Jahren ist sie Mitglied bei EXIT, um sich die Option zu sichern, mit Hilfe der Freitodorganisation autonom sowie selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Unnötige Therapien wolle sie keine mehr über sich ergehen lassen, nicht zu einem medizinischen Versuchskaninchen werden, erklärte mir die Betagte wiederholt. Frau A. ist – trotz ihres hohen Alters – absolut klar im Kopf, liest täglich die Zeitung, diskutiert gerne über «Gott und die Welt», aber diverse, schwere Leiden machen ihr zunehmend zu schaffen.

Bei meinen wöchentlichen Besuchen sprechen wir über Alternativen zum assistierten Suizid, über Palliative Care und Sterbefasten. Wir wägen ab, reden über die Vor- und Nachteile, über die Folgen. Die Patientin ist, mit einer Präferenz für EXIT, offen für alle drei Wege, braucht aber Zeit, um sich zu entscheiden. Ein befreundeter Arzt, mit dem Thema bestens vertraut und selbst bereits pensioniert, gibt ihr in einem klärenden Gespräch Sicherheit: Die meisten EXIT-Patienten stürben zu Hause, dort wo sie sich wohl und geborgen gefühlt haben. Das leuchtet Frau A. ein. Nun herrscht Klarheit über den Sterbeort, aber nicht über das Datum des Sterbetags. Wir lassen uns Zeit.

Prolog

Ab August 2020 nehmen die Schmerzen zu, dunkle Gedanken lassen Frau A. nicht mehr schlafen. Die Lebensqualität geht laut ihrer Aussage gegen Null. Anfang September, nach einem Gespräch mit ihrer Freundin entscheidet sie sich ganz bewusst für EXIT. Ich werde gebeten, mit der Geschäftsstelle der Freitodorganisation Kontakt aufzunehmen und die Formalitäten zu erledigen. Die Hausärztin schickt den aktuellen Diagnosebescheid nach Zürich. Die Urteilsfähigkeit und Handlungsfähigkeit der Betagten werden klar bejaht. Der Sterbewunsch ist konstant und längere Zeit wohlerwogen.

Nach Prüfung sämtlicher Unterlagen meldet sich Frau X, Freitodbegleiterin, seit über zwanzig Jahren für EXIT tätig, für ein Gespräch an. Die sympathische Frau mit weissem Haar kommt Anfang Oktober gemeinsam mit dem Konsiliararzt, der das Medikament Natrium-Pentobarbital (NaP) ausstellen wird, zu Frau A. nach Hause. Letzte Fragen werden beantwortet, der Prozess erklärt. Dann wird das Sterbedatum diskutiert. Die Patientin zögert und möchte sich mit ihrer Freundin besprechen. Frau X. ergänzt, dass sich das Datum jederzeit verschieben lasse, wenn Frau A. dies wünsche.

Einige Tage später entscheidet sich die Patientin, dass sie in zehn Tagen sterben will. Am folgenden Tag kommt die von mir kontaktierte Bestatterin zur Besprechung vorbei. Auch sie hat Erfahrung mit «ausserordentlichen Todesfällen» und spürt im Lauf des Gesprächs sehr genau, was Frau A. regeln möchte und was nicht. Gemeinsam besprechen die Damen den Text der vorbereiteten Todesanzeige, reden über das «Einbetten in das letzte Bett» und die Einäscherung. Ein Datum für die Kremation wird festgelegt. Frau A. tut dies ohne Wehmut, mit wachem Geist, erleichtert und stets positiv gestimmt. Die letzte Phase des Abschiednehmens hat begonnen.

Der Todestag

Der Kalender zeigt Ende Oktober, der Sterbetag ist da. Ich treffe als Erster um 9 Uhr ein. Frau A. sitzt im Wohnzimmer – wie immer – innerlich aufgeräumt auf ihrem Sofa. Sie trägt Alltagskleider, eine schwarze Hose, ein kariertes Hemd. Wir sprechen über das Wetter, die Pandemie, über lokalpolitische Themen. Um 9.30 Uhr erscheint die Freitodbegleiterin. Ganz natürlich und ohne Weinerlichkeit reden wir über den Tod. Mit ruhiger Stimme fragt Frau X: «Sind Sie sicher? Wollen Sie heute sterben?» Von der Sterbewilligen kommt ein klares Ja.  Dann erklärt Frau X. die weiteren Schritte: Zuerst müsse Frau A. ein Medikament trinken, dann zwanzig Minuten warten. Anschliessend gingen wir zusammen ins Schlafzimmer. Sie könne sich aber Zeit lassen und immer noch Nein sagen. Frau A. wirkt aufgestellt, zeigt schwarzen Humor. Zusammen lachen wir und warten.

Um 10 Uhr stellt Frau A. ihr Handy ab, zieht ihre Uhr aus und legt beides auf das Tischchen nehmen sich. Dann sagt sie mit klarer Stimme: «Ich bin bereit. Geben Sie mir bitte das Medikament gegen die Übelkeit.» Das Mittel Paspertin wird mit Wasser in einem Glas aufgelöst. Frau A. trinkt es ohne sichtliche Reaktion. Nach zehn Minuten fragt sie: «Können wir jetzt in mein Schlafzimmer gehen?» Die Frau X. verneint und erklärt: Wenn das tödliche Medikament zu früh eingenommen werde, könnte es zu Erbrechen und zu Komplikationen kommen.

Um 10.30 Uhr legt Frau A. ihre Brille auf das Tischchen und steht auf. Gemeinsam begeben wir uns ins Schlafzimmer. Auf Anweisung der Freitodbegleiterin setzt sich Frau A. am Fussende auf ihr Bett. Die Vertrauensperson nimmt zu ihrer Linken Platz, ich setze mich zu ihrer Rechten. Die Freitodbegleiterin lässt sich auf einem Bürostuhl nieder, gegenüber der Patientin. Das tödliche Medikament NaP hat sie in einem Glas Wasser aufgelöst. Ein zweites Glas mit Honigtee zum Spülen steht auf dem Tisch bereit. Die Stimmung ist angespannt, aber ausgesprochen würdig.

Der Moment

Ich halte die rechte Hand von Frau A. Sie wirkt gefasst, atmet tief. In ihrem Gesicht sehe ich eine weiche Emotion. Ihre Augen sind feucht. Aufrecht sitzt sie da, selbstbestimmt, wie sie ihr ganzes Leben lang war, entschlossen zum Sterben. Die Freitodbegleiterin beugt sich zu Frau A. vor und fragt sie liebevoll ein letztes Mal: «Sind Sie bereit? Möchten Sie diese Welt verlassen?» Gefasst und ohne zu zögern kommt die Antwort: «Ja, ich bin bereit, geben Sie mir bitte das Glas.» Mit ruhiger Stimme sagt die Freitodbegleiterin. «Frau A. ich wünsche Ihnen eine wunderschöne Reise.» Dann gibt sie ihr das Glas. Frau A. atmet einmal tief durch, führt das Glas zum Mund und trinkt es in einem Zug aus. Dann gibt sie es zurück. Ich nehme wieder ihre Hand. Wir warten, ohne zu reden.

«Ich möchte schneuzen, darf ich aufstehen?» fragt Frau A. nach ungefähr einer Minute. «Nein, das geht jetzt leider nicht mehr,» lautet die Antwort der Freitodbegleiterin. Darauf schneuzt sich Frau A. sitzend. Nach drei weiteren Minuten spricht sie ihre letzten Worte. «Mir wird schwindlig.» Ihre Freundin zur Linken, ich zur Rechten, stützen je mit unserer freien Hand ihre Schulter und lassen sie sanft auf den Rücken gleiten. Noch atmet sie, die geschlossenen Augen zucken, der Brustkorb hebt und senkt sich. Auf Vorschlag der Sterbebegleiterin ziehen wir Frau A. auf dem Bett hoch, so dass ihr Kopf, von Frau X sorgfältig geführt, auf dem Kissen zu liegen kommt. Würdig liegt sie nun da, als ob sie schliefe. Ich fühle ihren Puls. Er wird immer schwächer.

Nach drei weiteren Minuten steht die Freitodbegleiterin auf, öffnet das Fenster. Mit einem Stethoskop prüft sie, ob noch Herztöne zu hören sind. «Keine mehr. Nun hat uns Frau A. für immer verlassen», sagt Frau X. leise. Zu Dritt schauen wir durch das offene Fenster, der Vorhang bewegt sich im Wind.

«Hinter der Nebelwand ist das Licht, in dem alles Leid erlischt.» Foto: Peter Schibli

Nach der Anspannung spüre ich Trauer und Erlösung in mir. Erlöst von ihren Schmerzen ist auch Frau A. Ihre Freundin kniet derweil am Bettrand, hält die Hand der Verstorbenen an ihre Wange, streichelt ihre Stirn, weint. Die Freitodbegleiterin legt von hinten den Kopf auf die Trauernde, hält ihre Schultern, strahlt Wärme, Ruhe und Würde aus. Als sie sich beruhigt, verlassen Frau X. und ich den Raum, gehen ins Wohnzimmer. Die Freundin, sie war die nächste Bezugsperson, soll allein Gelegenheit haben, sich von Frau A. zu verabschieden.

Die Amtshandlung

Nun ruft die Freitodbegleiterin mit ihrem Mobiltelefon die Kantonspolizei an, stellt sich als EXIT-Mitarbeiterin vor, meldet einen assistierten Suizid und bittet den diensthabenden Polizisten, die nötigen Schritte einzuleiten. Auf die Nachfrage, wie lange es ginge, erhält sie die Antwort: «Rund 50 Minuten». Nach knapp einer Stunde treffen nacheinander drei Herren in Zivil ein: zuerst der diensthabende Arzt des Instituts für Rechtsmedizin (IRM) mit einer Tasche, dann ein Polizist des Kriminaltechnischen Dienstes (KTD) mit einem Koffer, und schliesslich ein Fahnder der Kantonspolizei.

Die drei Herren kondolieren der Hinterbliebenen kurz. Anschliessend informiert der Fahnder, dass sie nun die Verstorbene untersuchen und anschliessend dem Staatsanwalt telefonisch einen kurzen Bericht durchgeben würden. Diese Amtshandlung müssten sie ohne unsere Anwesenheit durchführen, wir seien gebeten, im Wohnzimmer zu warten. Im Schlafzimmer der Verstorbenen finden die Herren, von der Freitodbegleiterin fein säuberlich vorbereitet, sämtliche notwendigen Papiere, die beiden leeren Gläser sowie die Identitätskarte der Toten. Nach rund zwanzig Minuten kommen sie ins Wohnzimmer und bestätigen, «dass der Staatsanwalt die Leiche freigegeben hat.» Der Amtsarzt füllt den Totenschein aus. Noch ein paar Unterschriften unter Protokolle sowie Zeugenformulare, bevor sich die drei Herren diskret verabschieden.

Die Bestatterin

Während die Frau X. die Bestatterin anruft, geht die Freundin der Toten noch einmal ins Schlafzimmer. Nach rund einer Stunde trifft die Bestatterin, Frau R. ein, worauf sich die Freitodbegleiterin herzlich von uns verabschiedet. In der folgenden Stunde bereitet Frau R. die Verstorbene für das Einbetten vor. Zwei Helfer ziehen Frau A. die Alltagskleider an und betten sie sorgfältig in den Sarg. Die Bestatterin legt die Hände der Toten aufeinander, zupft das Hemd zurück und streicht ihr über das Haar. Auf ein Leichenhemd und Schminke hat Frau A. ganz bewusst verzichtet.

«Die Erinnerung ist ein Fenster, durch das ich Dich sehen kann, wann immer ich will.» Foto: Peter Schibli

Wir stehen alle um den Sarg, als die Bestatterin ein paar Sätze des Abschieds spricht und sich direkt an Frau A. wendet. «Wir fahren Sie nun ins Krematorium und bringen Sie in die letzte Stube. Von dort werden wir Sie auf dem letzten Weg begleiten.» Der Sarg wird endgültig verschlossen, die hinterbliebene Freundin möchte Frau A. nicht mehr anschauen, auch unmittelbar vor der Kremation nicht mehr. Das Bild der Verstorbenen, wie sie friedlich im Sarg liegt, ist der letzte Eindruck, die letzte Erinnerung, die wir an sie haben. Ein Efeuzweig wird auf den Sarg gelegt, die Bestatterin verabschiedet sich mit warmen Worten von uns, der Leichenwagen fährt los.

Epilog

Am Abend des Sterbetages, bei einem Glas Wein, ziehen die Freundin der Verstorbenen und ich Bilanz. Wir sind traurig, dass Frau A. nicht mehr auf dem Sofa neben uns sitzt. Gleichzeitig sind wir aber auch dankbar und erleichtert, dass sie offensichtlich ohne Schmerzen und im Frieden gehen konnte. So wie sie es sich immer gewünscht hat. Wir tauschen Erinnerungen aus, sprechen über unsere Gefühle, über die nächsten Schritte, den Trauerprozess, über unsere eigene Endlichkeit. Das letzte Geheimnis bleibt ein Geheimnis. Eines Tages wird die Reihe an uns sein. Werden wir genauso selbstbestimmt, mit Würde und wachem Geist von dieser Welt gehen? Diese Fragen begleiten uns in der Trauer während den Wochen seither.

Titelbild: «Im neuen Licht wirst Du wärmend uns umgeben und aus der Ferne in uns weiterleben.» zvg


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4 Kommentare

  1. Ismet Damgaci; )an die werte Redaktion).Doppelt ist nicht mein bescheidener Beitrag, sondern die hochgeschâtzte Reaktion Ihrer hochgeehrten Redaktion.

    Freiwillig das Leben verlassen wollen, finde ich mutig, gleichzeitig auch unnötig. Meines Erachtens sollte darüber der Himmel entscheiden. Nicht umsonst heisst es: «Ruf des Himmelvaters». Dem kann und darf sich keine/r widersetzen.

  2. Sehr geehrter Herr Peter Schibli
    Mit grossem Interesse habe ich Ihre Kolumne über den Freitod gelesen, da auch ich schon viele Jahre zu Exit gehöre. Ich finde den Artikel sehr schön und auch beruhigend. Vielleicht sollte Herr Schibli den Artikel auch an die Zeitschrift Exit senden. Dort würde er wohl von vielen Interssierten gelesen.
    Ich grüsse herzlich Myra Tönz

  3. Ich möchte Herrn Peter Schibli von Herzen danken für seine berührende, gewissenhaft und sorgfältig sowie authentisch zu Papier gebrachte Schilderung des von Frau A. gewünschten Todes mithilfe Exit.

  4. Herzlichen Dank für den sehr diskreten und mitfühlenden Bericht. Ich habe so den Freitod eines sehr geliebten Freundes nachvollziehen können. Das war mir während der Pandemie nicht möglich gewesen.

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