Zügigen Schrittes geht Oleksandr durch die vom Krieg zerstörte Stadt. Der 25-Jährige arbeitet in der Verwaltung der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Seit seine Familie in den Westen geflohen ist, wohnt er mit Hund Reichel bei seiner Grossmutter Daria in deren Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses. Grosse Teile des Gebäudes wurden im September bei einem russischen Raketenangriff beschädigt. Die Wohnung im Erdgeschoss ist vollständig ausgebrannt.
Oleksandrs Eltern und vier seiner Geschwister haben sich Ende April, acht Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs, in Sicherheit gebracht. Schwester Vera nahm nur ihr Cello mit. In Thun hat die Familie eine provisorische Unterkunft gefunden. Oleksandr und zwei ältere Brüder mussten in Kiew bleiben. Sie dürfen die Ukraine nicht verlassen. Alle drei sind im wehrfähigen Alter und müssen damit rechnen, in die ukrainische Armee eingezogen zu werden. Der Gedanke, dass ihre Söhne im Krieg umkommen könnten, bereitet den Eltern grosse Sorgen.
Allen Ängsten zum Trotz haben sich Oleksandr und seine Freunde an die täglichen Gefahren, an die verwüsteten Gebäude, die aufgerissenen Strassen und zerbombten Parks gewöhnt. Mehr Mühe bereiten ihnen die leeren Regale in den Geschäften, die unregelmässigen Stromausfälle, die heulenden Sirenen und die aufflackernden Feuer in den Vorstädten. Die unerwartet auftauchenden Drohnen sorgen für Tod und Verwüstung. Die neuartigen Kriegsgeräte fliegen praktisch lautlos und bleiben für die Luftabwehr unsichtbar. Im Freien fühlt sich niemand mehr sicher.
Abends ist es in der Kiewer Innenstadt dunkel. Weder die Strassenlampen noch die Schaufenster der vielerorts geschlossenen Geschäft sorgen für Beleuchtung. Licht kommt nur von den Armeelastern, den wenigen Bussen und spärlich zirkulierenden Privatautos. Eigentlich wäre jetzt Adventszeit. Vor einem Jahr leuchteten auf den Plätzen und an den Gebäuden mit farbigen Kugeln und Kerzen geschmückte Weihnachtsbäume. Oleksandr erinnert sich, dass er zusammen mit seiner Schwester ein Adventskonzert besuchte.
Der junge Mann sehnt sich nach Ruhe, Frieden und feierlichen Weihnachten. Das Lied «Vom Himmel hoch, da komm ich her» klingt in seinem Kopf. Doch Oma Daria holt ihren Enkel auf den Boden der Realität zurück. «Dieses Jahr gibt es keinen Weihnachtsbaum, keine Kerzen, keine Geschenke», eröffnet sie ihm und schiebt nach: «Im Krieg gibts nichts zu feiern.»
Deprimiert marschiert Oleksandr am nächsten Abend vom Büro Richtung Wohnung. Die Adventszeit, Weihnachten, hat er sich anders vorgestellt. Das Zischen angreifender Drohnen schreckt ihn aus seinen Gedanken auf. Blitzschnell sucht er unter einem Eisenbahnviadukt Schutz. Aus der Deckung heraus schaut er nach oben und hat das Gefühl, am Himmel einen Engel zu sehen, der mit einem geschmückten Weihnachtsbaum zu feierlicher Cellomusik, vorbeizieht. Beim genaueren Hinschauen glaubt er sogar, die Gesichtszüge seiner Schwester Vera zu erkennen.
Oleksandr reibt sich die Augen und versteht nicht, was passiert. Handelt es sich um eine Halluzination? Schnell geht er nach Hause, öffnet die Tür und betritt das Treppenhaus. Oben angekommen, wird er ein zweites Mal überrascht: Vor der Wohnungstür steht ein Weihnachtsbaum, wunderschön geschmückt, mit farbigen Kerzen, goldenen Kugeln und glitzernden Girlanden. Auf dem Spitz leuchtet ein Stern. Oleksandr berührt, den Baum, die Nadeln, die Kugeln und stellt erstaunt fest, dass er nicht träumt.
Glücklich trägt er das Bäumchen ins Wohnzimmer und stellt es auf den Tisch. Grossmutter Daria staunt nicht schlecht über das unerwartete Geschenk. Noch mehr staunt sie, als ihr Oleksandr von seiner Engelserscheinung unter dem Viadukt erzählt. Die beiden freuen sich zusammen mit Hund Reichel über das Wunder und zünden die Kerzen an. Kerzen der Hoffnung auf Frieden, ein Lichtblick für eine bessere Zukunft, in der Ukraine, in der seit zehn Monaten Krieg herrscht.
Oleksandr und Daria schauen sich an und empfinden Hoffnung. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt: Auf eine dunkle Nacht folgt immer ein heller Sonnenaufgang.
Weihnachten (Різдво) wird von orthodoxen Christen in Russland und in der Ukraine nach dem julianischen Kalender gefeiert, am 6. Januar. Katholische und protestantische Christen feiern Weihnachten dagegen nach dem gregorianischen Kalender, am 25. Dezember. Am 16. November 2017 bestimmte das ukrainische Parlament den 25. Dezember zum offiziellen Feiertag. 2020 erklärte der Leiter der Orthodoxen Ukrainischen Kirche, Metropolit Epiphanius, dass eine Änderung des Weihnachtsdatums auf den 25. Dezember in der Ukraine möglich ist. In diesem Jahr feiern viele Ukrainerinnen und Ukrainer Weihnachten erstmals am 25. Dezember.
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In der Weihnachtsserie «Feiern in dunklen Zeiten» bereits erschienen:
Bernadette Reichlin So viele düstere Wolken
Peter Steiger Chic oder Schock – Christbaum verkehrt herum
Maja Petzold Licht im Dunkel
Ja, ein Wunder sehnen wir uns herbei, auch wenn wir nur zuschauen müssen bei diesem grausamen Zerstörungskrieg. Mein Neffe hat eine Ukrainerin geheiratet, deshalb kenne ich auch ihre Familie und einige ihrer Freundinnen und Freunde. Wenn man Menschen aus der Ukraine persönlich kennt, fühlen sich die Angriffe noch schrecklicher an. Aber Weihnachten feiert Katya mit ihrer Familie immer noch am 6./7. Januar. – Danke für den schönen Beitrag.