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Auf der Suche nach der guten Regierung

Mein Beitrag zur Sommerserie von Seniorweb kommt aus Italien. Dies, weil ich einen Teil meiner Zeit in diesem Land verbringe. Und auch, weil hier Wahlkampf herrscht und das Land wieder einmal die gute Regierung sucht.

Das italienische Parlament hat Mario Draghi aus dem Amt gejagt. Ausgerechnet jenen Italiener, der im Land, in Europa und auf der Welt die höchste Achtung geniesst. Verstanden haben das bis heute nur die Politikerinnen und Politikern, die den Schaden angerichtet haben. Sie sehnten sich schon lange nach Wahlkampf. Offen ist, ob sich die Wählerinnen und Wähler vom politischen Gewusel anstecken lassen. Viele haben resigniert und wissen, dass ihr politisches Personal fast ausnahmslos lieber Wahlkampf betreibt als verantwortungsvoll regiert. Das vermutlich auch besser kann. Jedenfalls fürchtet sich das Land vor einer tiefen Stimmbeteiligung.

Personen und Programme

Jeder Wahlkampf hat seine Eigenheiten. Heuer, beispielsweise, wurde zunächst heftig darüber diskutiert, ob die Wählerinnen und Wähler nicht schon vor dem Abstimmungstag ein Recht darauf hätten, zu wissen, mit wem die Gewinnerpartei oder der Gewinnerblock Schlüsselministerien zu besetzen gedenkt. Oder ob aufgrund von Programmen, für die sie eintreten, Legislativpolitiker für die beiden Parlamentskammern zu wählen seien, die fähig sind, dem Staatspräsidenten eine Regierung samt Chef oder Chefin zu empfehlen, die das Land gut regiert. Staatsrechtler staunten ob der Diskussion und wiesen entrüstet darauf hin, das sei doch schon längst in der Verfassung geregelt. Das Thema blieb in der Luft, alle tun, was sie für richtig halten. Darum: was bloss ist gutes Regieren?

Il buon governo

Blicken wir zurück. Ins 13. Jahrhundert, ins italienische Trecento, das viele Denker und Künstler hervorbrachte. Auch den Toskaner Ambrogio Lorenzetti. Dieser hat in der «Sala dei Nove» im «Palazzo Pubblico» auf dem Hauptplatz von Siena, der piazza del Campo, in einem grossartigen Fresko das «Gute und das Schlechte Regiment sowie dessen Auswirkungen auf Stadt und Land» dargestellt. Die neun gewählten Bürger trafen sich in diesem Saal zu ihren Regierungssitzungen. Das Fresko gab ihnen den Rahmen, um Macht und Recht über Land und Volk auszuüben.

Die gute Regierung ist ein Gesamtkunstwerk, die sich von klaren Werten leiten lässt (Bilder: zVg.)

Das Fresko hat zwei Teile. Der erste stellt das gute Regiment dar. Im Mittelpunkt thront ein würdiger alter Herr mit Szepter und Stadtwappen. Er verkörpert den Comune, also die Gemeinde, die Stadt Siena. Zwar sieht dieser Herr aus wie ein König, was viele Interpreten irritiert hat. Denn Siena war zu jener Zeit eine funktionierende Republik und dem früheren Podestà war jede Macht genommen worden.

Links und rechts des Königs sind die Werte der guten Regierung dargestellt. Und zwar in Form von Tugenden. An Tugenden soll die gute Regierung ihr Handeln ausrichten. Es sind Tugenden aus der klassischen, griechischen Tugendlehre: Frieden, Tapferkeit, Vorsicht, Grossmut, Masshalten und Gerechtigkeit. Auch in Anlehnung an Platon und seine Politeia, sein grosses Werk über den Staat, wo er schrieb: «Unser Staat ist, wenn er richtig gegründet ist, auch weise, tapfer, besonnen und gerecht.» Auf dem Fresko über dem König die drei biblischen Tugenden: Glaube, Liebe Hoffnung. Die Botschaft Lorenzettis an die neun Regierenden im Saal: haltet Euch bei Euren Entscheiden an diese Werte und Ihr werdet die Stadt gut regieren.

Die Gerechtigkeit lässt sich von der Weisheit lenken und gibt ihr Wirken an die Einigkeit weiter

Der zweite Teil der Komposition ist einer einzigen, ganz besonderen Tugend gewidmet, der Gerechtigkeit.  Offenbar war es Lorenzetti wichtig, die Gerechtigkeit hervorzuheben und nicht einfach den anderen Tugenden gleichzusetzen. Ihre Inspiration erhält die Gerechtigkeit von der Weisheit, ihre Wirkung gibt sie an die Eintracht weiter. Diese drei Tugenden sind durch einen gemeinsamen Strang verbunden, der an 24 Bürger weitergegeben wird, die sie in die Gemeinde tragen.

Gerechtigkeit hat bekanntlich Denker in jedem Jahrhundert beschäftigt, auch, um etwas aktueller zur werden, Friedrich Dürrenmatt. Für ihn war Gerechtigkeit eine Mittelhaltung zwischen Freiheit und Gesetz. Gibt es zu viel Freiheit, wird das Staatssystem ungerecht, weil nicht alle gleich davon profitieren können; zu wenig Freiheit ist ebenfalls ungerecht, weil jene, die die Gesetze bestimmen, zu viel Macht bekommen. Gerechtigkeit ist der kluge Mittelweg.

Wie auch immer, die gute Regierung hat natürlich auch direkte Auswirkungen auf Land und Leute.

Gepflegtes Leben in einer Gemeinde, die gut regiert wird.

Wird das Land gut regiert, herrschen Friede und Wohlstand, zeigt uns Ambrogio Lorenzetti. Die Häuser sind intakt und gepflegt, die Menschen reich und wohlgewandet. Handwerker, Krämer, Marktfrauen bewegen sich geschäftig in der Stadt, gemächlich konversieren sie miteinander. Fern sind jede Angst und Aufgeregtheit. Ein zweites Bild im Saal zeigt die Auswirkungen der guten Regierung auf das Leben auf dem Lande.

Die Tugendlehre eine Inspiration für heute

Nun könnten wir die Beschreibung noch lange weiterführen. Im Saal gibt es auch eine Darstellung der schlechten Regierung, die geprägt ist von Lastern. Aber wir sind im 21. Jahrhundert und es ist müssig, den Werten des Trecento nachzuhängen. Zumal sie im Werk von Lorenzetti allegorisch und wohl auch etwas überzeichnet vorkommen.

Würden sich Politikerinnen und Politiker im Wahlkampf, in welchem auch immer, aber ganz in Ruhe im Saal der Neun umschauen, würde es ihren Blick bestimmt weiten. Ihre Aufmerksamkeit würde vom täglichen Kleinkrieg der Politik, Medien und sozialen Plattformen weggelenkt. Weg von der belanglosen Nachricht, die die nächste, noch belanglosere jagt und diese wieder die übernächste. Im Minutenrhythmus und auf allen Kanälen. Sie, die Politikerinnen und Politiker, die über die politische Gestaltungskraft verfügen, würden entdecken, wie sie ihre Projekte, Konzepte und Strategien an wenigen, klaren Werten ausrichten, wenn sie später gut regieren wollen. Sie würde den Bürgern solche Werte erklären und sich bei ihnen auf diese Weise positionieren.

So sei den italienischen Parteien, die diesen Sommer mitten in den Bäumen des Wahlkampfs den Wald nicht mehr sehen, eine Handvoll von Lorenzettis Tugenden gewünscht. Und den schweizerischen im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen nächstes Jahr grad auch.

Vorerst geniessen die Italiener den Sommer

Aber genug der Betrachtung und zurück zum Sommer, der dieser Serie den Namen leiht und den Ansporn gibt zu diesem Text: Bald, am 15. August, ist Ferragosto; und damit höchster Feiertag im Sommer. Acht von zehn Italienerinnen und Italienern sind in den Ferien, am Meer oder in den Bergen und feiern. Alles, was sie bewegt, hat sowieso Zeit bis nachher. Ci vediamo in settembre.

Und ganz zum Schluss ein kleiner Disclaimer: Es war der aufmerksame Politikwissenschafter Alois Riklin, Professor an der Universität St. Gallen, der sich Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts als erster mit Ambrogio Lorenzetti und seinem Werk in Siena zu befassen begann. Und mir 1977 Gelegenheit gab für eine HSG-Semesterarbeit zu diesem Thema. Aus dieser zitiere ich hier unbekümmert. Seither wurde viel fundiertes über das Thema publiziert. Wer sich vertiefen will, zum Beispiel von Gabriella Piccinini, «Operazione Buon Governo», 2022, beim Verlag Einaudi.


In der Reihe «Endlich Sommer» bereits erschienen:

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3 Kommentare

  1. Ja, ja, die Italiener:innen. So sehr ich das Meer, das Essen, die Sprache und die wunderschönen Landschaften dieses Landes liebe, mit der katholischen Kirche und ihren Monumenten habe ich es nicht so sehr, ich verstehe die Mentalität dieser Menschen, trotz italienischen Wurzeln mütterlicherseits, einfach nicht. Ich kenne persönlich leider fast nur das touristisch erschlossene Italien, und natürlich via Medien das politische. Ich habe den Versuch schon längst aufgegeben, sinnstiftende Erklärungen für das, was im italienischen Polittheater läuft, oder eben nicht läuft, zu entdecken.
    Eigentlich könnte man annehmen, die Italiener:innen hätten aus ihrer Geschichte, so wie die Deutschen, gelernt. Mit Mussolini, seiner rechtsradikalen Vergangenheit und den Pakt mit Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg vor Augen, sollten doch die Berlusconis und Konsorten, keine Chance mehr haben, die Macht an sich zu reissen. Weit gefehlt! Der immer noch grassierende Machismo, mehr Schein als Sein vorzuzeigen, und der nicht zu bändigende Hang zur oberflächlichen, temperamentvollen bis ausufernden Kommunikation ohne klares Ziel, beherrscht auch heute noch die Politik und scheinbar auch die meisten der Italiener:innen.
    Für mich ist Italien ein Land, das in seinen Teenagerjahren stecken geblieben ist und einfach nicht erwachsen werden kann. Ganz im Gegensatz zur Schweiz, die seit Ewigkeiten erwachsen ist und sich nicht mehr erinnert, wie es war, als noch Aufbruchstimmung im Land herrschte und mit der Flowerpower-Ära, die Welt sich zum Positiven veränderte.

  2. Es ist die Neofaschistin Merloni, welche «die Macht an sich reisst» …. und nicht der greise Berlusconi mit seinen 7% für FI sondern eben die «Fratelli d’Italia» mit dem Grabfeuer Mussolinis auf ihrem Parteilogo… und mit 25% in den Umfragen führende Partei. Das passt halt nicht ins Bild gewisser Kommentatorinnen auf diesem Forum… für die Männer pauschalisierend stets die Bösen sind und mit den Frauen an der Macht eh alles besser wäre… bald wird der Merloni wohl auch die Le Pen in Frankreich folgen… dann werden wir ja sehen wie mit der «Frauenpower» die Welt besser und friedliebender wird…

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