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Die Aura Giovanni Segantinis

Nach den Corona bedingten Absagen der meisten Sommer-Festivals und Kulturveranstaltungen liessen es sich unentwegte Bewunderer des Engadiner Symbolisten Giovanni Segantini und seine Enkelin, Gioconda Segantini, „trotz allem“ nicht davon abhalten, in Maloja eine Ausstellung zu realisieren, die noch bis zum 28. August zu bestaunen ist.

In dieser Kulturleiste erschien am 31. Juli der Bericht von Ruth Vuilleumier über die Bildungsreise, welche die Reisehochschule Zürich mit Gioconda Segantini durchführte und die vom 10.-13. September nochmals angeboten wird. Die Exkursion gilt den wichtigsten Lebens- und Schaffensstationen des berühmten Künstlers.

Giovanni Segantini im Kreise seiner Familie

Maloja, am südlichen Rand der oberen Engadiner Ebene gelegen, gehört politisch bereits zum Bergell. Zu dieser wunderschönen Landschaft meinte Segantini: “Sie ist eine wahre Fundgrube für meine Kunst. Ich habe begonnen, die Gegend hier in Besitz zu nehmen.»

Hier steht das Segantini-Haus mit Atelier, man kann das Familiengrab aufsuchen und auf dem Sentiero Segantini viel über seine Kunst erfahren. Weiter wandert man zum gut restaurierten Turm des ehemaligen Schlosses, das Segantini bewohnen wollte. Auch die Chiesa Bianca trägt unauslöschliche Spuren des grossen Symbolisten.

In der Chiesa Bianca in Maloja wurde sein Leichnam nach der Überführung vom Schafberg ob Pontresina, wo er 41jährig unerwartet starb, aufgebahrt und von seinem Freund Giovanni Giacometti auf dem Totenbett gemalt. Und hier sollte am 8. August auch das „Fest der Begegnung 2020“ stattfinden, das Gioconda Segantini mit ihrem profunden Wissen über die biographischen und künstlerischen Wegmarken ihres Grossvaters bereicherte.

Die Chiesa Bianca wurde vom belgischen Graf Camille de Renesse nach Plänen des berühmten Architekten Jules Rauh erbaut. Die schmucke Kirche stammt aus den 1880er Jahren und wurde gleichzeitig mit dem Maloja-Palace erbaut. Sie diente bis 1967 als katholisches Gotteshaus und wird seither von Gioconda Segantini, von ihrem künstlerischen Erbe beseelt, der Öffentlichkeit für Ausstellungszwecke geöffnet. Auch Jugendliche wie die Steiner-Schüler aus Kreuzlingen nutzten schon eine Bergwoche, um sich mit Aquarellen dem Alpentriptychon Segantinis anzunähern und die Arbeiten in diesem Frühsommer zu präsentieren.

Die Kunstwelt ist bekanntlich bei einigen Gemälden noch uneins, ob zum maltechnisch prägenden, lichtdurchfluteten Divisionismus die Zuordnung zum realistischen Symbolismus oder eher zum aufkommenden Surrealismus rechtens sei. Die ausgestellten Bilder zeigen diesen Grenzbereich mit unvollendeten Allegorien und auch weniger bekannten Gemälden, die dem Einfluss des Nirwana-Gedichts des Puccini-Librettisten Illica nahe stehen. Zu sehen sind rare „fine art print“- Kopien von gültiger Qualität, denn eine Ausstellung mit Originalgemälden wäre an diesem Ort nicht zu finanzieren. Das Ambiente der Kirche, umgeben von den majestätischen Bergflanken des oberen Bergells, entfaltet zusätzlich seinen eigentümlichen Reiz.

Das Ausstellungsplakat mit der Liebesgöttin, im schneereichen Winter 1894/95 entstanden.

In Maloja liegen damals 3 Meter Schnee. Dazu Segantini: «Die Kälte hält an, der Wind ist noch heftiger geworden und es entstehen Berge von Schnee. Täglich hört man von Amputationen von Händen und Füssen – und auch von Toten, die erfroren sind…» Der Künstler, der es sonst liebt, im Freien zu malen, setzt erst mal im Atelier mit Studien zeichnerisch der christlichen eine der Venus vergleichbare Liebesgöttin entgegen und nähert sich damit der surrealistischen Deutung. Die schwebende Göttin umgibt er nach nachträglich vorgenommener Übermalung des Hintergrunds mit einer goldenen Umrahmung.

Gioconda Segantini: «Ich finde, dass Segantini in der Darstellung der christlichen Göttin oder Liebesgöttin sämtliche Facetten des Weiblichen kontrastierend dargestellt hat.»

 

Der Engel des Lebens / Die christliche Göttin, 1894

Dieses Gemälde gab der Mailänder Bankier Leopolod Albini für die Loggia seiner Villa in Auftrag. Die blattlose Birke breitet sich über die ganze Fläche aus und die Zweige umrahmen und tragen die Mutter mit ihrem Kind. Sie schwebt wie viele seiner allegorischen Frauengestalten der Erde enthoben, und der Stamm scheint Erde und Himmel zu verbinden.

Albini sei der «Dea Cristiana» lange völlig überwältigt gegenübergestanden. Was würde der Künstler wohl dafür verlangen? Segantini traute sich nicht, einen Preis zu nennen. Letztlich erhielt er dafür 5’000 Lire in Gold.   

Einem undatierten Brief an den Kunsthändler Grubicy ist zu entnehmen: „…Wenn die Umstände mich zwingen, die Natur ausser acht zu lassen und in mir selbst zu suchen – wie beim Gemälde „Der Engel des Lebens“ – dann werde ich von fortgesetzten und unaufhörlichen Gewissensbissen geplagt, die mich verzehren wie das Bewussstein einer schlechten Tat, auch wenn ich weiss, dass ich recht tue.“

«Sie wollen etwas über mich, meine Familie und meine Berge wissen? Hier lebe ich, 1817 Meter über dem Meeresspiegel, bei 15 bis 30 Grad Kälte, in einem ganz aus Holz gefügten, bequemen, gut geheizten Häuschen, mit meiner Frau und drei Söhnen. Ich habe auch eine Tochter, die sich jetzt im Institut befindet. Der Ort, den ich bewohne, ist kein richtiges Dorf, da es in seiner ganzen, nicht geringen Ausdehnung bloß vier Familien beherbergt, die meinige mit inbegriffen.»

Die Strafe der Wollüstigen, 1891

Das Gemälde entstand 1890/91, wiederum in einem schneereichen Winter. Die weiblichen Figuren, die ohne Flügel im Raume schweben, streben mit trostloser Gebärde der untergehenden Sonne zu. Es ist eine Symphonie in Weiss und Blau, Silber und Gold. Das Gedicht «Nirwana» seines Freundes Illica inspirierte ihn dazu. Ihm liegt eine buddhistische Legende aus dem 12. Jahrhundert zugrunde (siehe: Illica Nirwana / Wikipedia).

Segantinis Haltung gegenüber Frauen war geprägt vom Geist der Zeit, in der Frauen zuhause bleiben und nach den Kindern schauen sollten. Er verurteilte die Frauen, die die Mutterschaft verweigerten und nur die Freuden der Liebe genossen. Dazu schreibt er: «Unsere bürgerliche Gesellschaft erzeugt leider nur Frauen mit krankhaften Nerven, die mehr Kokotten als gute Mütter und treue Gefährtinnen des Mannes sind.» Die Frauen liessen seinen diesbezüglich etwas rückwärtsgewandten Geist nie zur Ruhe kommen. Auch das eine Erkenntnis dieser anregenden Retrospektive.

Die Ausstellung ist (ausser Mittwoch) täglich von 11-18 Uhr zugänglich.

Hier finden Sie alle bisher erschienenen Beiträge zur Serie Sommer trotz allem der Redaktionsmitglieder:

Peter Steiger: Chum Bueb und lueg dä Abfall a
Judith Stamm: Was heisst denn da „trotz allem“?
Josef Ritler:
«Die Schweiz verhäbt»
Fritz Vollenweider: Sommerbilder
Linus Baur: Einmaliges Zusammenspiel von Natur und Kunst
Bernadette Reichlin: Sommer ohne Ferien – geht das?
Ruth Vuilleumier: Mit Oma ausfahren
Maja Petzold: Träumereien unter der Himmelskuppel
Eva Caflisch: Aus der Not ein Hobby machen
 

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