Ein Ferienziel steht nicht am Horizont. «Traumferien» kann ich deshalb als Begriff aus dem Titel der Sommerserie schon mal streichen. Auch «Ferienträume» bezeichnen das, was ich beschreiben will, nicht. Ich will ganz kleine Begebenheiten, Erlebnisse ins Gedächtnis rufen, die untrennbar mit grossen Städten, die ich besucht habe, verbunden sind. Und ich schicke die Bemerkung: «Wenn ich mich richtig erinnere» als Vorsichtsmassnahme gleich allen drei Erzählungen voraus.
Vor Jahren absolvierte ich als Studentin einen Aufenthalt in Paris, um mein vom Gymnasium geprägtes Französisch «alltagstauglich» zu machen. Mein Wohnort befand sich in der Nähe der Kirche St-Vincent-de-Paul. Diese lag zwischen zwei Strassen, die sich Rue Fénelon und Rue Bossuet nannten. So weit so gut. Das Witzige daran ist, dass Francois Fénelon (1651- 1715) und Jacques Bénigne Bossuet (1627- 1704) zwei berühmte Kirchenmänner gewesen sind. Diese hatten sich während ihres ganzen Lebens wegen unterschiedlicher theologischer Meinungen vehement bekämpft.
Paris im Dunst. Aber die Kirche St.Vincent de Paul mit ihrem grünen Dach ist deutlich zu sehen (oben links).
Das erzählten mir meine Freunde so lebhaft, wie wenn das fast noch Gegenwartsgeschichte wäre. Und begleitet von einem ironischen Lächeln wurde die Erzählung abgeschlossen damit, dass sich die beiden nun als «Nachbarn» vertragen müssen. Wobei ihnen sicher ihr Los durch die Distanz, die die Kirche zwischen den beiden schafft, etwas erleichtert wird!
Was heisst «colorful»?
Einem anderen geistlichen Herrn begegnete ich, auch vor vielen Jahren, in San Francisco. Es handelte sich um Reverend Cecil Williams. (geb. 1929). In meinem Reiseführer wurde auf ihn hingewiesen, er wurde «colorful» genannt. Niemand wollte mir so richtig Auskunft geben, was dieses Eigenschaftswort bedeuten sollte. Also machte ich mich eben auf den Weg zu seiner Pfarrei der «Glide Memorial Church» in San Francisco.
Als ich dort ankam, sah ich eine lange Schlange von Menschen vor einem benachbarten Lokal anstehen. Das sei jeden Tag so, sagte mir ein Passant. Hier werde für die Ärmsten der Armen täglich Suppe ausgeschenkt. Aber es geschah noch vieles anderes. Reverend Williams hatte der LGBTQ-Gemeinschaft Platz für Versammlungen in seiner Pfarrei angeboten, als diese in der Öffentlichkeit noch abgelehnt wurde. Er hatte auch die Black Panther-Bewegung unterstützt und hatte Untersuchungen brutalen Verhaltens der Polizei gegen African Americans verlangt.
San Franciso ist nicht nur die Golden Gate Bridge, ein Goldenes Tor in die Stadt. Dahinter verbirgt sich auch Armut und Diskriminierung.
Ja, als ich mir das Ausmass seiner damals umstrittenen Tätigkeiten vor Augen führte, fand ich, der Ausdruck «colorful» sei passend und beinhalte trotz Ablehnung ein grosses Quantum an Respekt. Persönlich habe ich den Reverend leider nicht kennen gelernt.
Zu einer persönlichen bereichernden Begegnung kam es hingegen mit Peter Elsing, dem Hausleiter des Synanonhauses in Berlin. Synanon ist eine Einrichtung, in der drogenabhängige Menschen lernen, sich von ihrer Sucht zu befreien und ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben ohne Suchtmittel und ohne Kriminalität zu führen.
Ein Herz für Hilfesuchende
Aus beruflichen Gründen interessierte ich mich vor Jahren für die Drogenproblematik und die Einrichtungen, die süchtigen Menschen Hilfe anboten und besuchte das Haus in Berlin. Peter Elsing (geb.1952) hatte selbst eine entsprechende Karriere hinter sich, wie er mir in aller Offenheit erzählte. 1984 trat er bei Synanon ein und arbeitete dort zuerst in der Druckerei. Mit der Zeit übernahm er immer mehr Verantwortung für die Gemeinschaft und wurde schliesslich Leiter des Hauses.
Als ich für den vorliegenden Text seinen Namen bei Google eingab, musste ich zur Kenntnis nehmen, dass er am 31. Januar 2021 verstorben ist. Obwohl unser Kontakt seit Jahren eingeschlafen war, traf mich diese Nachricht schmerzlich.
Licht und Schatten auch in Berlin. (Fotos pixabay)
Im Nachruf heisst es über ihn: «Für ihn war die Gemeinschaft immer wichtiger als er selbst. Das Wir zählte für ihn. Er hat sich nie geschont, war immer da, wenn er gebraucht wurde. Er hatte ein Herz für seine Leute, setzte sich für sie ein. Sein Suchtwissen war enorm. Vielen hat er mit seiner konsequenten Sicht auf die Dinge geholfen. Er konnte zuhören und verstehen.»
Natürlich habe ich in Paris, San Francisco und Berlin auch Ferientage verbracht. Aber in Erinnerung geblieben sind mir vor allem die Begegnungen, die ich erlebt habe. Von Zeit zu Zeit rufe ich sie ins Gedächtnis zurück und freue mich daran wie an Kostbarkeiten.
Etwa so, wie ich mich früher über Steine mit bizarren Formen oder Muscheln gefreut hatte, wenn ich nach der Rückkehr aus den Ferien den Koffer ausgepackt und diese Trouvaillen andächtig an einem passenden Ort in der Wohnung platziert hatte. Die Gegenstände sind schon lange verschwunden. Ordnung muss ja schliesslich sein! Erinnerungen aber bleiben. Für sie ist der Platz unbegrenzt!
Hier finden Sie die bereits veröffentlichten Beiträge zur Sommerserie der Seniorweb-Redaktion:
Bernadette Reichlin: Ferienträume – Traumferien
Eva Caflisch: Das Glück am Grab
Peter Steiger: Familie Steigers Reise ins Rotlichtmilieu
Maja Petzold: Erst Traum, dann Erinnerung
Josef Ritler: Expedition auf den Kilimandscharo
Ruth Vuilleumier: Tahiti – Insel der Träume
Peter Schibli: Alpkäsen statt Canyon-Wanderung