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Georgia O’Keeffe: Das radikale Sehen

Ihre Blumenbilder sind Ikonen, seit Jahrzehnten in aller Welt beliebt als Poster für Wohnräume. Höchste Zeit, die Malerei von Georgia O’Keeffe in ihrer ganzen eit ändernBandbreite kennenzulernen: Die Fondation Beyeler feiert die amerikanische Künstlerin mit einer Retrospektive.

Gewiss Georgia O’Keeffe (1887-1986) hat Blumen in einer grossartigen Blow-up-Malerei auf die Leinwand gebracht und war dafür mit den auch hierzulande breit gestreuten Posters berühmt. Aber davon später. Die Künstlerin – eine der berühmtesten der USA – war kompromisslos auf der Suche nach der absoluten Malerei, ihr spielte es keine Rolle, ob am Ende Abstraktion oder Gegenständlichkeit dabei herauskam.

Graublau & Schwarz – Rosa Kreis, 1929. Dallas Museum of Art, Schenkung der Georgia O’Keeffe Foundation © Dallas Museum of Art.

Das ist in der Ausstellung bei Beyeler unübersehbar, denn im ganzen Werk der Malerin tauchen zeitgleich figürliche neben abstrakten Leinwänden auf. O’Keeffe hat ihr Tun, die Absichten und Ziele ihrer ureigenen Art zu malen immer wieder reflektiert und drüber geschrieben:

«Ich finde es erstaunlich, wie viele Menschen das Gegenständliche vom Abstrakten trennen. Gegenständliche Malerei ist keine gute Malerei, ausser sie ist gut im abstrakten Sinne. Ein Hügel oder Baum garantiert ja nicht schon deshalb ein gutes Gemälde, nur weil es ein Hügel oder ein Baum ist. Erst durch die Verbindung von Linien und Farbe können sie etwas ausdrücken. Für mich ist das die eigentliche Grundlage der Malerei. Die Abstraktion ist oft die präziseste Form für das nicht Fassbare in mir selbst, das ich nur mittels der Farbe verdeutlichen kann.»

Kastanienbaum – Grau, 1924. Kunin Collection of American Art, Minneapolis, MN. ©Georgia O’Keeffe Museum/2021, Pro Litteris, Zürich

Georgia O’Keeffe, geboren 1887, wuchs mit Geschwistern auf einer Farm in Texas auf. Ihre kreative Begabung wurde früh entdeckt, sie konnte eine Kunstausbildung bekommen und arbeitete als Kunstlehrerin. Der Durchbruch kam, als einige ihrer Kohlezeichnungen und Aquarelle in Alfred Stieglitz’ Hände gerieten. Der bekannte New Yorker Fotograf und Galerist war sowohl von der Frau als auch von ihrer Kunst eingenommen und begann sie zu fördern. Sie kam in Kontakt mit der zeitgenössischen Kunst und traf die bedeutendsten Künstler aus Europa und den USA, denn Stieglitz’ Galerie war ein Hot Spot der internationalen Kunstszene.

Alfred Stieglitz: Georgia O’Keeffe, 1918. © Georgia O’Keeffe Museum Santa Fé, NM

Mit Alfred Stieglitz war sie bis zu dessen Tod 1946 verheiratet. Er stellte ihre Werke zusammen mit erotischen Aktfotografien aus, die er von ihr gemacht hatte, was dazu führte, dass ihre Malerei von Kritikern gern in die weibliche Sex-Ecke gepackt wurde. Vor allem in ihren grossen und detailgenauen Blütenbildern können Genitalien und sexualisierte Erotik gesehen werden. Sie selbst reagierte darauf eher befremdet, wollte nicht als naive und emotionale Künstlerin, auch nicht als Feministin, sondern einfach als Malerin in Erinnerung bleiben. Warum sie ihre Blumenbilder so gross malte, erklärt sie damit, dass sie Hilfe zum schauen bietet: «Ich habe das gemalt, was mir jede einzelne Blume bedeutet, und ich habe sie so gross gemalt, damit andere sehen können, was ich sehe.»

Zug bei Nacht in der Wüste, 1916. The Museum of Modern Art, New York. © Georgia O’Keeffe Museum/2021, Pro Litteris, Zürich. Foto: 2021. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence

O’Keeffe malte – abstrakt oder figürlich – immer die Natur und was diese bei ihr auslöste. Ihre Malerei ist präzise und flächig, ihr Formenprogramm wiederholt sich seit den Anfängen. Die Spiralform findet sich auf einer der frühen Kohlezeichnung genau so wie auf späten Gemälden. Aber warum abstrakt malen, wenn vor den Augen in New Mexico, wo sie das halbe Leben verbrachte, die Badlands liegen, die grauen, auch bunten, von der Erosion geformten Felsen. Es geht um das radikale Sehen.

Strasse in New York mit Mond, 1925. Museum Thyssen-Bornemisza, Madrid. © Georgia O’Keeffe Museum/2021, Pro Litteris, Zürich. Foto: © Georgia O’Keeffe Museum/2021, Pro Litteris, Zürich

Formale Ausnahme sind die Stadtbilder, die in New York entstanden sind. Hier sind Winkel und Geraden unvermeidlich, wenn es gilt, Hochhäuser und Strassenschluchten auf die Leinwand zu bringen. Aber auch da zählt O’Keeffes These: «Nichts ist weniger real als der Realismus. Details verwirren. Nur durch Auswahl, Weglassen, Hervorhebung kommen wir an die wirkliche Bedeutung der Dinge.»

Hierzulande ist Georgia O’Keeffe, eine bekannte Unbekannte, deren erste grosse Retrospektive beachtet wurde, aber singulär blieb: 2003 hat die grosse Kuratorin Bice Curiger sie im Zürcher Kunsthaus präsentiert. Und nun zeigt Theodora Vischer in der Fondation Beyeler eine absolut sehenswerte Auswahl durch das Gesamtwerk der Amerikanerin, welche neue Dimensionen der Begegnung ermöglicht. Die Retrospektive, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Georgia O’Keeffe Museum, Santa Fe, umfasst rund 90 Werke und ist nach dem Centre Pompidou und dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza die dritte Station.

O’Keeffes Aussagen zur Malerei belegen, dass sie sich immer wieder theoretisch überlegte, warum sie was und wie malte. Ihre Kunst verstand sie als eigenständigen Ausdruck einer Frau: «Bevor ich den ersten Pinselstrich mache, frage ich mich: Bin das wirklich ich? Hat mich hier vielleicht ein Gedanke beeinflusst, den ich von einem Mann übernommen habe? Ich versuche mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln, ein Bild so zu malen, dass es ganz allein eine Sache der Frauen und gleichzeitig ganz allein meine Sache ist.»

Black Mesa Landschaft, New Mexico/Im Garten von Marie II, 1930. © Georgia O’Keeffe Museum/2021, Pro Litteris, Zürich. Foto: © Georgia O’Keeffe Museum/2021, Pro Litteris, Zürich

Frauensache ist zurzeit Thema in dieser Schweizer Kunstsaison. Seit kurzem wetteifern Kunstmuseen und Galerien miteinander, Künstlerinnen der klassischen Moderne bis zu Kunstmacherinnen der aktuellen Szene zu präsentieren. Meret Oppenheim und Lee Krasner bekamen unlängst in Bern je eine grosse Einzelausstellung, die Retrospektive O’Keeffe in der Fondation Beyeler läuft noch bis Ende Mai, das Kunstmuseum Basel zeigt eine aussergewöhnliche Louise-Bourgeois-Schau, kuratiert von ihrer jüngeren Freundin, der Künstlerin Jenny Holzer, nachdem letztes Jahr Sophie Taeuber-Arp eine umfassende Schau bekommen hat.

In Bern folgt auf Gabriele Münter nun Heidi Bucher. Und in Chur stand dank einer Schenkung Angelika Kauffmann wieder einmal im Fokus. Das Kunsthaus Zürich zeigt mit der Konzeptkünstlerin Yoko Ono, dass die Japanerin eine der innovativsten und eigenständigsten Performerinnen unserer Zeit und bei weitem mehr als die Witwe von John Lennon ist. Und das Fotozentrum Winterthur bringt mit Manon die grosse Pionierin der feministischen Selbstinszenierung ins Bewusstsein und thematisiert mit den Werken der norwegisch-nigerianische Soziologin Frida Orupabo den Kolonialismus und seine Folgen.

Diese Aufzählung ist nicht vollständig, weitere weibliche Positionen gibt es hierzulande in anderen Museen und Galerien. In den Kunsthäusern arbeiten nun seit einer Generation vermehrt Frauen als Direktorinnen und Kuratorinnen. Das hilft, dass Künstlerinnen wie Lee Krasner oder Gabriele Münter, sogar Sophie Taeuber-Arp nicht mehr im Schatten ihrer Männer oder Partner gesehen werden, sondern ihre Relevanz endlich erkannt wird. Oder auch dass ihre Abwertung, weil sie sich mangels anderer Möglichkeiten mit Textilien, also mit minderwertigem Kunsthandwerk befassten, vorbei ist. Also der Beginn eines Künstlerinnenzeitalters im Anthropozän?

Serie 1, Nr. 8, 1919. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Schenkung der Georgia O’Keeffe Foundation © Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München.

Georgia O’Keeffe ist in den USA längst als eine der Grössten anerkannt. Gefördert und geliebt wurde sie vom viel älteren Alfred Stieglitz, aber das halbe Leben hat sie – früh verwitwet – eigenständig und autonom in New Mexico ihrer Kunst gewidmet. Und in Europa wird sie nun endlich wahrgenommen.

Titelbild: Stechapfel/Weisse Blüte Nr. 1, 1932. Crystal Bridges Museum of American Art, Betonville, Arkansas, © Georgia O’Keeffe Museum/2021, Pro Litteris, Zürich. Foto: Edward C. Robinson III.
bis 22. Mai
Informationen zur Ausstellung gibt es hier

Über diese oben erwähnten Ausstellungen hat Seniorweb geschrieben:
Meret Oppenheim
Lee Krasner
Sophie Taeuber-Arp
Gabriele Münter
Manon
Heidi Bucher
Louise Bourgeois/Jenny Holzer
Yoko Ono

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