StartseiteMagazinLebensart«Wir jammern auf hohem Niveau»

«Wir jammern auf hohem Niveau»

Zur Sommerzeit zieht sich der Autor, Satiriker und Ghostwriter Willi Näf (54) häufig ins ländlich-kühlere Appenzell – seine Heimat – zurück. Dort fühlt er sich mindestens so wohl wie in seiner Wahlheimat, dem Baselbiet. Alles in allem ist Näf zufrieden mit der Schweiz, bezeichnet sich selber als Patriot.

Willi, gibt es ein Ritual, das jeweils am Morgen der Sommertage zur Anwendung gelangt?

Ich höre die Nachrichten, stelle dann den Radiowecker ab und brummle zu meiner Frau hinüber, der Planet und die Leute darauf seien heute Morgen wohl nicht viel besser zwäg als gestern Abend. Dann lasse ich den ersten Kafi aus der Maschine, schaue hinaus, sehe Himmel, Sonne, Wolken, Wiesen, Bäume, höre Schafe oder Kuhglocken und denke: Zum Glück ist die Welt immer noch so schön wie gestern.

Du verbringst den Sommer in deiner Heimat, dem Appenzellerland. Kommst du da besonders gut zu philosophischen Einsichten oder/und zu guten Ideen?

Nein, zu denen komme ich auch in meiner Wahlheimat, dem mittleren Baselbiet. Ich wechsle im Sommer ab zwischen Heimat und Wahlheimat. Die sind sich übrigens recht ähnlich: Grün, hügelig und voller geerdeter Dickköpfe mit kuhfladigen Dialekten und rustikal gebauten Seelen. Das mag ich, als Bauernbub. Meine Ideen wachsen dort, wo das Gras wächst. Und der Pfeffer.

Zu welcher Tageszeit hast du die besten Ideen, bist du am kreativsten und produktivsten?

Ganz klar am Morgen, wenn das Gehirn noch frisch ist. Der Morgen ist super für Kolumnen, Satiren, Hörspiele oder Bücher. Am Nachmittag oder Abend schreibe ich Sprechtexte, also Reden oder Interviews, ich recherchiere oder transkribiere.

Bist du bereits an der Fortsetzung deines Buches «Seit ich gestorben bin, kann ich damit leben»? Wenn ja, auf welche Persönlichkeiten dürfen wir uns freuen?

Gloria Vanderbilt, Ötzi, Evita Peron, Fräulein Rottenmeier, Tom Dooley, Rasputin, die Judenverräterin Stella Goldschlag, das Autorenpaar der «Schwarzen Brüder», Lisa Tetzner und Kurt Held, Pocahontas und noch viele andere. Es juckt mich in den Fingern. Blöderweise kosten mich allein die Recherchen viele Monate, die ich im Moment nicht habe. Bücher schreiben ist Kür, und ich habe zu viel Pflicht und ständig Abgabetermine im Genick. 50 Kolumnen im Jahr, Texte, Scripts, Reden für Behörden oder Firmen. Im Moment arbeite ich an zwei Kinderhörspielen für Radio SRF gleichzeitig. Und wenn Vereine, Gemeinden oder Firmen mich für einen vergnüglichen Erzähl- und Leseanlass buchen, sage ich ja auch zu. Bücher gibt’s von mir in nächster Zeit wohl keine.

Angenommen, du müsstest am nächsten Sonntag eine Predigt halten. Welchen Bibelspruch würdest du wählen?

Prediger 3. Den Kernsatz «Alles hat seine Zeit» hat meine Frau mir auf meine Uhr eingravieren lassen. Ich habe übrigens dieses Jahr tatsächlich einmal gepredigt – in der reformierten Kirche Aarau. Als Thema habe ich «Von heiligen und anderen Geistern» gewählt. Es war Pfingstsonntag, zudem heisst meine Homepage geistschreiber.ch, da ist das ja naheliegend.

Wie und was würde der junge Willi Näf über den heutigen Willi Näf denken?

Er ist ein einfacher, zufriedener Geist auf Erden. Er sollte mehr Velo fahren und weniger Schoggi fressen. Konnte seine Passion zum Beruf machen; seine Liebe zum Schreiben ist immer noch da und seine Frau auch. Er hat in seinem Leben einige Böcke geschossen, viel Mist geschrieben und manches vergeigt. Aber er hat zwei grossartige, selbstständige und wunderbar schlagfertige Töchter, auf die er stolzer ist als auf jedes geschriebene Komma. Glücklich, alles in allem.

Welches Buch liegt derzeit auf Ihrem Nachttisch – und weshalb?

Es ist ein halbes Dutzend. Unter ihnen: «Sprache und Sein» von Kübra Gümüsay, «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» von Heinrich Böll, «Am Anfang war die Verschwörungstheorie» von Raab/Carbon/Muth, ausserdem die aktuelle Ausgabe von «Reportagen.com». Ich habe so viele Zeitungen und Magazine und komme kaum nach mit Lesen, und jetzt habe ich Löli auch noch «Reportagen» abonniert. In einer der nächsten Ausgaben erscheint eine gut zwanzigseitige Reportage von mir, die mich auch mindestens zwei Monate gekostet hat.

Zusatzfrage (weil du in Sissach BL soeben die 1.-August-Ansprache gehalten hast): Bist du ein Patriot? Wenn ja, wie äussert sich das?

Ja, das bin ich. Die Landeshymne finde ich grässlich, die Melodie langweilig und den Text seifig. Könnte ich sie austauschen mit der Europahymne, der geschmeidigen Ode an die Freude aus Beethovens Neunter, ich würde es sofort tun. Aber das ist meiner Meinung nach kein Kriterium für Patriotismus. Ich bin meiner Scholle emotional extrem verbunden und sehr staatsloyal. Ich stimme immer ab, wähle, bringe mich ein, habe in unseren Töchtern ein Staatsbewusstsein geweckt. Ich trage fast nur Edelweisshemden, habe sie in sechs Farben, massgeschneidert. Ich heule beim Appenzeller Landsgemeinde-Lied, bei den Silvesterchläusen, am Säntis, in meinen Wandergebieten im Baselbiet. Am Vierwaldstättersee habe ich meine Kochlehre gemacht, mein Herz lacht, wenn ich den Nidwaldnerdialekt höre, überhaupt alle Dialekte. Klar nerve ich mich auch oft über die Schweiz, es gibt viel zu verbessern, und so vieles dauert eeeewig. Und manchmal schäme ich mich für mein Land, oder für gewisse Politiker mit ihrem gschämigen Tonfall. Und bissig werde ich dann, wenn ich das Gefühl habe, jemand halte mich als Bürger, Wähler oder Kunden für ein Tubeli. Aber die gibt’s überall auf der Welt. Alles in allem funktioniert die Schweiz ordentlich, ich bin extrem dankbar für das austarierte Staatswesen, für den fantastischen ÖV, für alles. Wir jammern auf hohem Niveau. Ich liebe meine Heimat nicht nur wegen, sondern auch trotz.

geistschreiber.ch

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