Wenn Sie mich fragen, was ich heiss finde…
Ja, dann ist es (neben Marilyn Monroe oder einem schicken Zweirad) VINYL. Vinyl also – wenn Sie wissen, was ich meine…
Zugegeben: Technisch gesehen mag Vinyl, oder wie es korrekt heisst «Polyvinylchlorid», eher langweilig klingen. Aber, mit Verlaub: Wenn das runde Stück Vinyl einen Umfang von 12 Zoll (beziehungsweise 30,48 Zentimeter), eine Dicke von wenigen Millimetern und ein Loch in der Mitte hat, wenn es zwischen 40 und 180 Gramm wiegt, wenn es pro Seite eine Rillenlänge von rund 500 bis 600 Metern aufweist und bei einer Geschwindigkeit von 33 ½ Umdrehungen pro Minute durchschnittlich 20 bis 25 Minuten pro Seite dafür benötigt, so ist das durchaus «sehr heiss» für mich. Heisser als so manches andere.
Sie mögen sich womöglich fragen: Was, bitte sehr, soll denn so toll daran sein, im digitalen Zeitalter eine Langspielplatte (LP) aufzulegen? Mir fallen da mindestens drei handfeste Gründe ein, weshalb es auch heute noch – mehr als 90 Jahre nach deren Erfindung – unglaublich schön (ja, und heiss!) ist, sich mit Langspielplatten zu befassen. Doch halt, zunächst sollte erwähnt werden, dass die ersten Platten aus Schellack, einem spröden Material, das leicht brach, hergestellt waren. Erst ab 1948 wurde auf Vinyl umgestellt, weil es haltbarer war und eine bessere Klangqualität bot. Doch nun zu den erwähnten Gründen:
Sinnliches Vergnügen
Physische, analoge Formate wie die LP sind heutzutage, im Zeitalter des rundum-digital-dominierten Lebens, echter Luxus. Schon das Auflegen einer Vinylscheibe kommt einem haptischen Ritual gleich: Man entnimmt die Platte samt Innenhülle der Plattenhülle aus Karton, legt sie sachte auf den Plattenteller, entfernt allfälligen Staub mit dem feinen Bürstchen und setzt dann manuell oder mit einem kleinen Hebel die Nadel vorsichtig auf die sich drehende Scheibe.
Zuweilen hört man zunächst ein Knistern (vor allem bei älteren Scheiben) oder es geht nach dem Knacken beim Aufsetzen der Nadel gleich musikalisch zur Sache. Ein Platten-Aficinado wie ich nimmt sich ganz bewusst die Zeit, eine Platte auszuwählen und hört sich diese dann auch meist aufmerksam an. Gleichzeitig studiert er Cover und die dazugehörenden Informationen, Illustrationen und Songtexte. Übrigens: Zumeist lassen sich diese Informationen ohne Brille gut lesen, was im Falle einer CD kaum ohne Lupe geht. Kurz: Das Hören einer Platte wird zu einem sinnlichen Vergnügen und das Betrachten des Albums als visuelles Kunstwerk macht das gleichzeitige Hörerlebnis noch viel magischer.
Sammlerglück
Zugegeben: Theoretisch sollte auch beim Plattensammeln das erste Gossen’sche Gesetz (vom abnehmenden Grenznutzen) eintreten, was in etwa heisst, dass zum Beispiel die 10001-ste Platte für den Konsumenten längst nicht mehr einen so grossen Nutzen bringt wie die 101-ste. Praktisch aber erfreut sich das (sehn)süchtige Sammlerherz über jede Trouvaille, die man in einem Plattenladen, in einer Brocki oder an einem Flohmarkt ergattern kann. Denn was gibt es Schöneres, als dass man zum Beispiel seine Sammlung an Pink Floyd-Alben endlich komplettieren kann? Eben!
Dem Sammlerglück stehen im Wesentlichen nur zwei Hürden im Weg. Da wäre einmal das Geld, erstens: Denn seit der Vinyl-Boom in den letzten paar Jahren wieder da ist und die Plattenverkäufe jene der Compact Disc teilweise in den Schatten stellen (weil die meisten Leute rund um den Globus ihre Musik streamen oder digital konsumieren), sind auch die Preise für Vinylplatten gestiegen. Eine neue LP kostet etwa das Dreifache einer CD und ältere, gesuchte Platten können Rekordsummen bis zigtausende von Franken erbringen. So gesehen könnte das eigene Plattenarchiv mit etwas Glück auch eine Kapitalanlage darstellen.
Aber – da wären wir bei der zweiten Hürde: Das Plattengestell hat leider, leider nur eine begrenzte Aufnahmekapazität. Wenn man weiss, dass eine durchschnittliche LP um die 120 Gramm wiegt, lässt sich rasch ausrechnen, was ein Gestell mit tausenden an Tonträgern wiegen kann – das Gestell noch nicht eingerechnet. «Liebe Mobiliar…»
Unkomprimierte Hi-Fidelity
Wir sind beim dritten Grund, weshalb ich Vinyl heiss finde. Es ist der Klang. Denn wenn eine Platte perfekt für Vinyl gemastert ist (wenn ein Musikstück, die einzelnen Instrumente und Stimmen also stimmig gemischt sind), dann braucht sie den Vergleich mit jedem digitalen Format nicht zu scheuen – im Gegenteil: Sie klingt schlicht und ergreifend fantastisch wegen ihres warmen Charakters und dem kaum überhörbaren Rauschen, das analoge Formate eben ausmacht.
Es stimmt, eine Vinylplatte erreicht in aller Regel kaum den kristallklaren Klang einer CD. Doch gerade dies, diese kleinen Unzulänglichkeiten wie Knistern und Knackser, machen den Klang von Vinyl aus. Es mutet schon etwas absurd an: Oft wird heute bei der Produktion von neuen, digitalen Stücken im Studio versucht, solche Vinyl-typischen Eigenschaften künstlich einzubauen.
LP überlebt mich
Ein weiteres Plus der LP ist ihre Langlebig- und damit Nachhaltigkeit. Wenn sie gut gepflegt wird, kann sie mehr als hundert Jahre halten und damit ihre «Verwandten» wie CD und Kassettli locker überleben.
Von mir ganz zu schweigen…
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Vinyl bleibt Evergreen
Mit dem Aufkommen der Compact Disc (CD) zu Beginn der 1980er Jahre und später nochmals mit dem Aufkommen von Streamingdiensten (wie Spotify, iTunes etc.) sanken die Verkäufe von Vinyl-Langspielplatten weltweit kontinuierlich. Bis 2007, als es plötzlich zu einer Renaissance der Schallplatte kam.
Nicht nur Klassiker und Oldies werden heutzutage (wieder) auf Vinyl veröffentlicht. Im Gegenteil: Bekannte, grosse Künstlerinnen und Künstler lassen ihre Titel und Alben wieder auf Schallplatte pressen und veröffentlichen sämtliche Hits nicht nur auf den einschlägigen Streamingplattformen, sondern auch auf dem Lieblingsmedium der Vinyl-Enthusiasten.
Den Bärenanteil von rund 70 Prozent am Musikmarkt beansprucht das Audio-Streaming. Doch der physische Tonträger, die LP, behauptet sich trotz den höheren Preisen ganz prima. Weil es ein völlig anderes, entschleunigteres und bewussteres Erlebnis ist, Musik zu geniessen. Auf dem absteigenden Ast ist indes ganz klar die CD.
Mit diesem Beitrag ist die Sommerserie 2024 «HEISS» abgeschlossen.
Hier finden Sie die bisher publizierten Beiträge zur Sommerserie Heiss:
Linus Baur: Nichts wird so heiss gelebt…
Bernadette Reichlin: Von der Stirne heiss...
Eva Caflisch: Regensturm statt Sommerhitze
Josef Ritler: Heissi Marroni, ganz heiss
Maja Petzold: Fata Morgana oder «Lass dich nicht täuschen»
Peter Schibli: Heiss auf Eis
Ruth Vuilleumier: In Mali ist es richtig heiss
Beat Steiger: Mit Schwammstädten gegen Hitze und Überschwemmungen
Sibylle Ehrismann: Heiss ist mehr als heiss
Lieber Robert Bösiger
Bei Deinem Artikel wurde mir wirklich warm ums Herz. Ich bin auch so ein Vinylfreak und geniesse den analogen Klang einer LP oder Single. Und nicht vergessen: Diese Schallplatten sind auch Zeitdokumente. Die Musik wurde damals in diesem Format und Verpackung veröffentlicht. Und viel Musik, die ich höre, ist anders gar nicht erhältlich.