Eins der genialsten Startups aus dem Lockdown wegen Covid war «Einsingen um 9». Ende März 2020 war Premiere im Internet. Nun, am 17. Dezember 2022 wird zum tausendsten Mal um neun Uhr vormittags vor dem Bildschirm eingesungen.
Singen macht glücklich. Mit diesem Titel suchte unlängst ein Seniorenverein neue Stimmen für das Offene Singen. Singen macht glücklich, auch in dunklen Zeiten. Singen macht glücklich und es ist lernbar.
Macht Nicht-Singen also unglücklich? Klar zustimmen würden die beiden Sopranistinnen Barbara Böhi und Julia Schiwowa. Sie haben in jenen Märztagen 2020, als nichts mehr ging, Chöre nicht mehr üben durften, Literatur- und Konzerthäuser schliessen mussten und viele Künstlerinnen und Musiker der freien Szene ohne Engagement und Gage dastanden, Einsingen um Neun (Eu9) kurzerhand erfunden. Und sie stiessen auf grossen Hunger nach gemeinsamem Gesang.
Die Einsingerinnen und Einsinger, Barbara Böhi, Julia Schiwowa, Benjamin Berweger, Sarah Widmer, Daniel Pérez ©Eu9
Einsingen um 9 kam wie ein Geschenk des Himmels in die Häuser der Verstummten. Die beiden Vor-Sängerinnen der ersten Stunde haben ihren Versuch aus ähnlichen Gefühlen gestartet. Umso grösser die Freude, dass die Gründung nachhaltig wurde, dass das Interesse auch in warmen Sommermonaten, wo wieder gemeinsam auf Konzerte geübt werden durfte, nicht nachgelassen hat. So erinnern Barbara Böhi und Julia Schiwowa ihre Business-Idee:
Barbara Böhi: Am 16. März 2020 war ich gelähmt vom Lockdown, die Kinder mitten in der Woche zu Hause, alle Trams und Strassen leer – deprimierend. Nachdem ich die Idee mit Julia besprochen hatte, sah die Welt anders aus. Der Gedanke mit meinen beruflichen Fähigkeiten für all die gestrandeten Chorsängerinnen und -sänger vielleicht etwas Gutes tun zu können, war ein Lichtblick. Plötzlich war da die Freude, etwas anpacken zu können, nach den ersten lähmend untätigen Tagen im Lockdown. Es begann ein hektisches Planen und Üben: Wie mache ich einen Live-Stream? Wie kriegen wir gute Mikrofone? Kameraposition, Scheinwerfer…
Julia Schiwowa: Es war Panik – Ich hatte es gewagt, mich im November 2019 selbständig zu machen, was ich mir seit vielen Jahren gewünscht hatte… und dann brach die Welt zusammen! Ich war hyperaktiv, suchte Möglichkeiten in anderen Jobs ein neues Einkommen aufzubauen… Ich entwickelte einen panischen Überaktivismus. Zudem hatten meine zwei schulpflichtigen Kinder keine Schule mehr – Homeschooling war angesagt, mit Lernpaketen der Lehrer. Das klappte natürlich überhaupt nicht, meine Tochter hatte die Aufgaben für die ganze Woche montags um 11 gemacht und meinen Sohn musste ich bis Donnerstag ständig motivieren, wenigstens einen Teil davon zu erledigen. Einsingen um 9 war Liebe auf den ersten Blick.
Thema der Woche ist 1000 Kerzen. Am 14. Dezember war Sarah Widmer Einsingerin.
Am 23. März war Premiere, ab dann gab es täglich um neun – auch sonntags – eine halbe Stunde Stimmübungen und dazu ein kleines Lied – oft ein Kanon, ab und zu die Uraufführung eines solchen. Und wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Link, dank Internet über die Grenzen in andere Länder. Und glückliche Sängerinnen und Sänger nutzten auch gern die IBAN-Nummer zur finanziellen Unterstützung des Unternehmens. Allein zu zweit war der tägliche Auftritt bald nicht mehr zu bewältigen:
Barbara: Wenn wir jemand neuen brauchen, verbreiten wir die Ausschreibung in unserem Sängerinnen-Netzwerk und erzählen es in unserer Singgemeinschaft. Die Personen, die bei uns mitmachen, kennen auch viele gute Gesangspädagoginnen.
Wo immer eine Marke gesetzt ist, singt jemand ab und zu mit bei Eu9, denn der Stream kann auch zeitversetzt angeklickt werden.
Der Stream ist freilich nicht nur einseitig. Die Chatfunktion wird rege benutzt, man kennt sich mit der Zeit auch unter denen, die zuhause mitmachen, es gibt ab und zu heftige Diskussionen, und immer wieder finden Ideen oder Texte von einzelnen Übenden ein Echo.
Beim tausendsten Einsingen ist eine der Überraschungen ein Kanon von Uli Führe über das zum Anlass passende Gedicht einer Teilnehmerin der ersten Stunden. Mehr verraten ist untersagt, bevor es am 17. Dezember um Neun zum tausendsten Mal Einsingen um 9 heisst, dieses Mal mit Benjamin Berweger. Also am besten zum ersten, zum hundertsten oder gar zum tausendsten Mal (vielen Menschen ist Eu9 zum täglichen Ritual geworden) vor dem Bildschirm zuhause mitmachen. Die Initiantinnen wünschen sich tausend Aufrufe. Und erreichen das wohl auch, denn der Stream wurde seit Beginn über 2,9 Millionen mal angeklickt und verzeichnet rund 650’000 Stunden Wiedergabezeit.
Impressionen vom Grossen Weihnachtssingen im Offenen St. Jakob, Zürich
Nach der ersten Woche klickten sich vormittags um neun Uhr bereits über 1000 Personen ein. Eine unwirkliche und gleichzeitig berauschende Situation. Die «Einsingerin» steht zuhause vor einer Kamera, macht Singübungen und gleichzeitig machen unzählige Menschen zuhause dasselbe! Neu seit diesem Jahr sind Anlässe, wo die digitale Welt verlassen wird und junge und alte in der realen Welt gemeinsam singen. Am 3. Dezember war Das Grosse Weihnachtssingen in Zürich, ein überwältigendes Ereignis. Der Offene St. Jakob war übervoll, es waren Menschen nicht nur aus Zürich, oder aus dem Aargau oder aus Graubünden versammelt. Männer und Frauen aus halb Europa waren angereist um mitzumachen. Nicht alle singen in Chören, aber alle kennen Eu9.
Julia Schiwowa (links) und Barbara Böhi (rechts) haben mit ihrer Idee vom Einsingen um 9 sich und Tausende glücklich gemacht. Auch in dunklen Zeiten. Foto: © Dennis Yulov
Barbara: Im Moment überlegen wir, wie wir Menschen, die seit Jahren oder seit der Kindheit nicht mehr singen, zum Singen bewegen können. Das aktuelle Einsingen richtet sich eher an geübte Singende. Viele Menschen glauben fälschlicherweise, dass man Singen nicht lernen kann. Eine Möglichkeit von null an einzusteigen bieten wir beim Grossen Sing-Workshop, der am Samstag, dem 3. Juni 1923 in Zürich analog stattfindet.
Julia: Ich wünsche mir, dass sich die Teilnehmenden noch besser kennen lernen, sich austauschen, weiter neue Freundschaften und neue Singgruppen entstehen. Schön ist auch, dass Menschen gemeinsam etwas unternehmen, Konzerte besuchen, über Kunst und Kultur sprechen oder über ihren Alltag. Besonders wünsche ich mir, dass Einsingen um 9 für viele Menschen ein Tor nach aussen sein kann.
Hier geht es zum Einsingen um 9. Jeden Tag, auch über die Feiertage und am Samstag zum tausendsten Mal.
Alle Ausgaben von Eu9 sind nach dem Live-Stream im Internet auf Youtube gespeichert.
Seniorweb hat am Beginn des Lockdown über Eu9 berichtet: Chöre im Lockdown
In der Weihnachtsserie «Feiern in dunklen Zeiten» bereits erschienen:
Bernadette Reichlin: So viele düstere Wolken
Peter Steiger: Chic oder Schock – Christbaum verkehrt herum
Maja Petzold: Licht im Dunkel
Peter Schibli: Vom Himmel hoch…..
Sibylle Ehrismann: Verluste
Josef Ritler: Christkindli-Briefkasten
Ruth Vuilleumier: Goshas Hilfsprojekt
Beat Steiger: Befreiungswege aus dem Leiden