Pest oder Cholera? Diese makabre Alternative war früher ein geflügeltes Wort für die ausweglose Wahl zwischen zwei Übeln.
Beide sind weitgehend verschwunden. Heute schlagen wir uns mit einem Virus herum, von dem die Wissenschaft nicht genug weiss, um es effizient bekämpfen zu können. Das löst Angst aus, Panik – es lähmt die Gesellschaft.
Als es in der Schweiz so richtig ernst wurde, war ich mit Freunden im tiefsten Schwarzwald, wo wir uns regelmässig treffen. Ohne ständigen Kontakt zur Aussenwelt erfuhr ich nur, dass die Schweizer Grenze «zu» sei. Und unser Gastgeber, längst zu einem Freund geworden, sagte beim Abschied, bis auf weiteres dürfe er keine Gäste beherbergen. – Ich kam problemlos nach Hause.
Eine dramatischere Situation beschreibt Albert Camus in seinem Buch «Die Pest», 1947 erschienen, das ich daheim wieder einmal zur Hand genommen habe. Der Autor nimmt eine kleine, in Zeiten des 2. Weltkriegs fast unbeachtet gebliebene Pestepidemie in Oran als Grundlage für diesen Roman. Es geht dabei weniger um den Verlauf und die Ausbreitung der Krankheit in der algerischen Stadt, sondern grundsätzlich um das Eingeschlossensein, um den Kampf gegen eine schier unbesiegbare Macht. Algerien stand damals, anfangs der 1940er Jahre, unter französischer Kolonialherrschaft. Ganz Frankreich litt in diesen Jahren unter der Okkupation von Nazideutschland, was im Roman zwar mit keinem Wort erwähnt wird, aber jedem Zeitgenossen bewusst war: Die Menschen fühlten sich verraten und verlassen. Auf materielle oder medizinische Hilfe konnten sie nicht hoffen.
Noch heute, einen Monat nach meiner Rückkehr, spüre ich das seltsame Gefühl an jenem Sonntag: Die Strassen, die Autobahnen sind leer! – Wann hatte ich das je so gesehen?
Albert Camus geht es in der «Pest» wie in allen seinen Werken um philosophische und ethische Werte: Solidarität, Freundschaft, Liebe verdienen das grösstmögliche Engagement, sich der Seuche entgegenzustellen. Der Tod lässt sich jedoch nicht bezwingen; letztendlich führt alles zum Tod, unfassbar für den Menschen, für Camus stets ein Anlass zur Revolte.
Zu Hause angekommen, rieten mir Freundinnen, höchstens für einen Spaziergang nach draussen zu gehen und mir die notwendigen Lebensmittel liefern zu lassen. Nicht mehr selbst einkaufen zu können, schien mir eine unerträgliche Einschränkung meiner Freiheit. – Ich fragte meine 81-jährige Nachbarin. Sie ging immer noch selbst ihre Besorgungen machen. Das beruhigte mich.
Zum Schutz vor der Pest trugen Ärzte im 17. Jh. ein Ledergewand mit Überwurf und eine Maske. In dem schnabelartigen Fortsatz befanden sich Kräuter oder Essigschwämme zum «Filtern» der Luft./ commons.wikimedia.org
Der Arzt Bertrand Rieux ahnt als erster, welche Katastrophe sich anbahnt. Während er in dem Viertel, in dem er praktiziert, auffällige Ratten wahrnimmt, sieht sein Kollege im besseren Viertel der Stadt noch lange keine kranken Ratten. Rieux, leuchtendes Vorbild für seine Freunde, Kollegen und Mitbürger, wird zum wichtigsten Kämpfer gegen die gefürchtete Krankheit. Nicht nur, dass er die Pest schnell erkannt hat, in allen Belangen handelt er mit grösster Souveränität, stets mit Mitgefühl und Freundlichkeit.
In der Tat ist das Einkaufen völlig unproblematisch. In den wenigen Läden an meinem Wohnort sehe ich nur wenige Menschen, und die Kassiererinnen sind freundlicher als sonst, haben Zeit für einen Schwatz. – Niemand meint, dass ich mit meinen grauen Haaren zur Risikogruppe gehöre und zu Hause bleiben müsste. Im übrigen ist mindestens die Hälfte der Kunden in meinem Alter.
Oran ist inzwischen isoliert, alle Tore werden streng bewacht. Innerhalb der Stadt bewegen sich die Einwohner frei, raus darf niemand. Das macht besonders dem jungen Journalisten Raymond Rambert zu schaffen. Er war gekommen, um einen Artikel über die «arabische Frage» schreiben, aber fand keine Gesprächspartner, Rieux wies ihn brüsk ab. Nun, nach Ausbruch der Pest, versucht Rambert mit allen Mitteln, nach Paris zu seiner jungen Geliebten zu fliehen, alles misslingt. Schliesslich gibt er auf und wird ein wertvoller Helfer für Rieux. Dieser hatte Ramberts Fluchtversuche nie als feige abgetan, sondern dessen Liebe und Sehnsucht als achtenswertes Motiv akzeptiert.
Auch beim Spazierengehen – schon immer eine meiner Lieblingsbeschäftigungen – merke ich den Wandel: Wir grüssen uns und lächeln oft, fast wie Komplizen, die sich gegenseitig darin bestätigen, dem Virus ein Schnippchen zu schlagen.
Die Anlage des Romans lässt sich mit einem Spielplan vergleichen: Aus unterschiedlichen Lebensbereichen wählt Camus Charaktere aus, die am mörderischen, kräftezehrenden Spiel der Pest beteiligt sind. Da ist der Jesuit Pater Paneloux, berühmt für seine gelehrten Predigten, er beeindruckt mit seiner ersten Predigt, einer Strafpredigt gegen das «sündige Oran»; später spricht er empathischer. Schliesslich gibt er das Predigen auf, lässt sich vom atheistischen Humanist Rieux überzeugen und hilft bei der Krankenpflege mit.
Einmal höre ich im Wald ein Alphorn. Ich muss ziemlich weit laufen, bis ich den Spieler – einen Mann im Seniorenalter – entdecke. Er ist erstaunt, wie weit der Klang trägt, sogar gegen den Wind.
Wie zwiespältig verhalten sich Menschen doch, wenn Gefahr droht: Der korrekte Hauswart in Rieux› Haus will nicht glauben, dass eine tote Ratte in seinem Treppenhaus liegt – er stirbt als einer der ersten. Der alte Professor versucht, ein Serum gegen die Pest zu entwickeln, was nur halb gelingt. Und Cottard, der anfangs einen Selbstmordversuch begeht, findet ins Leben zurück: Als Schmuggler profitiert er nämlich von der Pest. Nicht zuletzt Tarrou, Rieux’ Nachbar, ein politisch engagierter Mensch, steht diesem auch ideell nahe und wird zu seinem besten Freund, er gründet eine Bürger-Schutzgruppe gegen die zerfallende Ordnung in der Pestkrise.
Abstand halten gehört zu den Knackpunkten: Manchen Leuten ist wohl nicht bewusst, wieviel Platz sie einnehmen. Und in unserem Land sind Spazierwege für die geforderte Distanz oft nicht breit genug.
Am Ende ist die Pest besiegt und ganz Oran jubelt. Nur Rieux behält seine Nüchternheit, er ist sich bewusst, «dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet, sondern jahrzehntelang in den Möbeln und der Wäsche schlummern kann». Der unermüdliche Helfer wird selbst hart getroffen: Seine kranke Frau, die er gerade noch rechtzeitig aus der Stadt in ein Sanatorium hatte bringen können, sieht er nicht wieder, sie ist gestorben.
Camus legt seinem Protagonisten zum Schluss die Worte in den Mund: » . . . dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung des Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.»
In loser Folge schildern unsere Redaktionsmitglieder, wie sie wegen der Corona-Krise das zu Hause sein erleben und wie sie damit umgehen. Hier die Links zu bereits erschienenen Beiträgen:
Endlich ein Beitrag zur Pandemie, der weder schlichtes Ich-über-mich, noch Verlautbarungen, die man zumeist anderswo bereits zur Kenntnis genommen hat, enthält, sondern ein klug gestalteter Essay anhand des wohl bekanntesten Pestromans. Lesegenuss im Home Office oder auch im mehr oder minder freiwilligen Gefängnis.
Liebe Maja, Dein Beitrag gefällt mir ausnehmend gut. Er ist sowohl konzeptionell als auch formal und literarisch hervorragend und liest sich spannend und fliessend. Gratuliere! – Es gibt übrigens in der Literatur noch zwei bemerkenswerte und mit Camus› Pest vergleichbare Publikationen: «Die Stadt der Blinden», von José Saramago, 1995 (Hoffmann und Campe); und «Im Land der letzten Dinge», von Paul Alster, 1992, (Rowohlt).
Zitat Linus, 23.03.20: «Mein Vorschlag: Wir lancieren eine persönlich gefärbte Serie mit fixem Logo, wie wir den Corona-Alltag erleben und meistern, oder geben passende Tipps, wie die Isolation am besten bewältigt werden kann, oder stellen Überlegungen an, welche Chancen die Krise bietet. Der Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.»
Kurz, knackig, prägnant: super Beitrag, vielen herzlichen Dank! Wie schön auch, Camus wieder in die Naherinnerung zu holen.
Dieser Beitrag von Maja Petzold hat mich sehr enttäuscht. Ich spreche nicht vom Vergleich mit Camus sondern von der Einstellung zum Thema «Der Mensch in Krisenzeiten».
Frau Petzold war im Schwarzwald (nicht im Urwald!). Sie hat wenig mitbekommen vom grenzenlosen Leid, das die ganze Welt befallen hat. Sie hat die unfassbaren Bilder aus den Spitälern von Bergamo nicht gesehen. Sie ist erstaunt über die geschlossenen Grenzen und leeren Strassen.
Nicht mehr selber einkaufen zu können, ist für sie eine unerträgliche Einschränkung ihrer Freiheit. Sie findet, Einkaufen gehen problemlos, sie verharmlost alles in diesem Zusammenhang, auch wenn sie zur Risikogruppe gehört.
Mein Mann und ich gehören ebenfalls zur Risikogruppe. Seit sechs Wochen befinden wir uns in Selbstisolation, nur für kurze Spaziergänge verlassen wir die Wohnung. Es fällt uns schwer, die Kinder und Enkelkinder nicht zu sehen. Auch das Delegieren der Einkäufe ist für uns nicht selbstverständlich und doch sind wir froh um die Nachbarschaftshilfe. Zu unserem Schutz und zum Schutz der anderen halten wir uns an die vom BAG aufgestellten Regeln und verzichten auf vieles.
Es ist mir klar, dass es immr Leute gibt, die machen, was sie wollen. Aber ich finde, dass gerade Seniorweb einen solchen Text nicht publizieren sollte, der allem widerspricht, was in dieser für alle schwierigen Situation lebensnotwenig ist.
Solidarität ist mehr als ein Wort!
Liebe Frau Bosshard
Wir alle, die wir hier auf seniorweb.ch lesen und schreiben sind Angehörige der Risikogruppe. Und nicht alle haben die Nachbarschaftshilfe, die sie sich wünschen. Aber lassen Sie uns doch einfach das beste draus machen, uns an diese für uns Wirtschaftswunder- oder auch einfach Nachkriegsgeneration völlig fremden Regeln der Selbstbeschränkung, die für viele von uns, möglicherweise auch für Sie und Ihren Mann, gewöhnungsbedürftig sind. Empathie braucht es auf allen Seiten.
Aber letztlich ist doch der Gewinn von Maja Petzold Beitrag die Referenz an Albert Camus› La Peste. Der Roman kann in einer Marathonlesung zurzeit gehört werden: Hier geht es zur Lesung:
https://fm4.orf.at/stories/3000956/
Vielleicht einfach mal reinhören, wie die Stadt Oran mit dem Lockdown wegen einer Epidemie zurechtkam.