Wenn es heute noch Lieder gibt, die alle kennen, dann sind das die Weihnachtslieder. „Stille Nacht, heilige Nacht“, „Oh du fröhliche“ oder „Ihr Kinderlein kommet“. In der Adventszeit sind ihre Melodien in Kaufhäusern, Radio und Fernsehen allgegenwärtig, sie sollen Stimmung bringen.
Und dann kommt der Moment an Weihnachten, an dem wir sie selber singen sollen. Manchmal scheitert das schon, weil man vielleicht die erste Strophe kennt, nicht aber den ganzen Text. An der Christnachtfeier in der Kirche steht ein Liederbuch mit den Strophen zur Verfügung, und der Klang ist wunderbar, weil die ganze Gemeinde zusammen singt, begleitet von der Orgel. Endlich ein Lied, das alle können! Zuhause jedoch, wenn die Kerzen brennen, fehlt es oft an einem Instrument, das begleitet, und wenn man das Singen nicht gewohnt ist, kann es ganz schön falsch und mickrig klingen.
Corona-Singverbote sind hart
Singen ist Ausdruck von Freude. In den Kirchen sangen seit jeher und singen noch immer die Menschen Psalmen zum Lobe Gottes. Umso härter traf das Singverbot wegen Corona letztes Jahr die Kirchen, vor allem an Weihnachten. Eine Weihnachtsfeier ohne gemeinsames „Stille Nacht“ und „Oh du fröhliche“?!? Vielen wurde da aber auch bewusst, wie schön das gemeinsame Singen an Weihnachten ist.
Adventskonzert der Aargauer Kantorei. (Ingo Hoehn)
In der Reformierten Kirche gab es jedoch schon einmal ein Singverbot, das ist jetzt knapp 500 Jahre her. Der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli verbannte 1525 die Musik gleich ganz aus seinen Gottesdiensten im Grossmünster. Der Grund dafür war damals kein Virus, das sich verbreitet hätte. Im Grossmünster waren die Gottesdienste zu Zwinglis Zeiten sehr prachtvoll ausgestattet, auch mit viel Musik. Das biblische Wort, so die Ansicht Zwinglis, wurde dadurch übertönt; alles war ihm zu laut und zu pompös.
„Der Verkündigung von Gotteswort konnte die Gemeinde nach der Meinung Zwinglis nur mit Schweigen und stillem Gebet in Andacht begegnen,“ schreibt Hannes Reimann dazu. Dafür liess der Reformator nicht nur den Gesang verstummen, er befahl auch den Ausbau der Orgeln – keine Musik sollte mehr die Andacht „stören“. Interessant ist die Tatsache, dass trotz Zwinglis Singverbot in der Kirche in der Stadt Zürich erstaunlich viele Psalmenbüchlein von Ambrosius Lobwasser (1515-1585) verkauft wurden. Lobwassers Büchlein war in der Schweiz auch deshalb so beliebt, weil es nicht auf Luthers Bibel-Übersetzung beruhte, sondern auf dem damals schon mehrfach vertonten „Genfer Psalter“. Die Menschen damals pflegten noch das häusliche Singen, man sang diese Lieder zur Erbauung daheim.
Weihnachtslieder gegen Demenz
Gerade die allseits bekannten Weihnachtslieder eignen sich auch gut dazu, um an Demenz erkrankte Menschen in der Adventszeit sinnvoll zu aktivieren. Dazu hat die Sängerin Wiebke Hoogklimmer im Behr’s Verlag eine Audio-CD samt Liederbuch mit Weihnachtsliedern herausgegeben. Die Idee dazu ist bei der Sängerin eng verbunden mit der Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter. Durch das Singen habe sie einen Weg gefunden, schreibt sie, jenseits des gesprochenen Wortes mit ihrer Mutter kommunizieren zu können.
Singen verbindet. Auch an Demenz erkrankte Menschen können mit Weihnachtsliedern oftmals noch «abgeholt» werden.
Auf dieser CD sind 28 Weihnachtslieder zu hören, die speziell für Menschen mit einer Demenzerkrankung, mit tiefer Stimme, ohne Instrumentalbegleitung und mit hoher Textverständlichkeit aufgenommen sind. Das Hören und Mitsingen der Weihnachtslieder kann Menschen mit Demenz helfen, sich an die schönen Momente dieser besonderen Zeit zu erinnern. (www.behrs.de).
Das zusammen Singen hat auch einen grossen sozialen Wert. Man fühlt sich durch die gemeinsame Melodie verbunden, und in einem Chor ist man im grossen Klang aufgehoben, ja man wird von ihm mitgetragen. Diese verbindende Kraft zu spüren ist für Chorsängerinnen und –sänger ein wesentlicher Aspekt ihrer wöchentlichen Proben.
Gemeinsam Weihnachtslieder singen ist in vielen Familien ein gerne gepflegter Brauch, ein Ritual. (Drazen Zigic/pixabay)
Weihnachten ist ein guter Moment, dieses Gemeinschaftsgefühl auch in der Familie mit den Kindern und Enkelkindern singend zu erleben. Die Lieder und die Texte lassen sich heute ja problemlos downloaden, es lohnt sich, dafür auch ein paar Griffe auf der Gitarre, dem Klavier oder auf der Blockflöte zu üben. Und falls niemand spielen kann, gibt es auch CDs mit den Liedbegleitungen, zu denen man singen kann. Nur – die sind oft recht schnell und überfordern ungeübte Sänger.
Woher kommt eigentlich das beliebteste Weihnachtslied?
Bei den Recherchen zu diesem „Rituale“-Artikel hat mich eine Frage besonders umgetrieben: Weshalb haben sich ausgerechnet Weihnachtslieder wie „Stille Nacht, heilige Nacht“ oder „O du fröhliche“ so stark verbreitet? Und woher kommen sie überhaupt?
Speziell ist die Geschichte von „Stille Nacht, heilige Nacht“, das Lied ist nämlich einem unglücklichen Zufall zu verdanken. Den Text – eine sechsstrophige Friedensbotschaft – schrieb der Pfarrer und Dichter Joseph Mohr (1792-1848) im Jahre 1816 in Mariapfarr im salzburgischen Lungau. Zwei Jahre später wurde Mohr Pfarrer in der St. Nikola Kirche in Obernsdorf bei Salzburg, deren Orgel aber „altersmüde“ war und deshalb ausgerechnet am 24. Dezember 1818 ihren Dienst versagte.
Die Stille-Nacht-Kapelle in Obernsdorf steht heute an dem Ort, wo einst die St.Nikola Kirche stand, die abgerissen wurde. Diese schlichte Kapelle ist ein Anziehungspunkt für tausende Menschen aus aller Welt, besonders zur Vorweihnachtszeit. (TVB Obernsdorf/Hermeter)
Um die Weihnachtsfeier zu retten, bat Mohr kurzerhand den Organisten Franz Gruber (1787-1863), zu seinem „Stille Nacht“-Gedicht bis zum Abend eine Melodie „für 2 Solostimmen sammt Chor und für eine Guitarre-Begleitung“ zu schreiben. An Heilig Abend sang Mohr dann die Oberstimme und begleitete mit der Gitarre, und Gruber intonierte den Bass dazu. Schon damals kam das Lied gut an, „die einfache Composition wurde sogleich mit allen Beifall produzirt.“
Es waren die noch heute legendären Rainer-Sänger aus dem Zillertal, die das Lied anlässlich eines Besuches von Kaiser Franz I. und Zar Alexander I. im Schloss Fügen zum Besten gaben. Nach einer umfangreichen Reisetätigkeit in Europa brachen sie 1839 zu einer Amerikareise auf und brachten dort „Stille Nacht“ vor der ausgebrannten Trinitiy Church in New York zur amerikanischen Uraufführung.
Zur Jahrhundertwende sang man das heute berühmteste Weihnachtslied – verbreitet durch katholische und protestantische Missionare – bereits auf allen Kontinenten. Weihnachten ohne „Stille Nacht“ ist heute nicht mehr vorstellbar. Dieses schlichte Lied bahnte sich über das Tiroler Zillertal den Weg ins restliche Europa, nach Amerika und in die Welt. Bisher kennen wir Übersetzungen in mehr als 330 verschiedenen Sprachen und Dialekten.
Hier können Sie die bisher erschienenen Beiträge der Weihnachtsserie 2021 «Rituale» nachlesen:
Bernadette Reichlin: Blütenzauber jenseits aller Modetrends
Peter Schibli: Die Magie des Lichts
Peter Steiger: Vom Pöstler, vom Geld und von Lys Assia
Linus Baur: Rituale sind so wichtig
Beat Steiger: Wer wird wo geboren?
Eva Caflisch: Advent Advent
Jürg Bachmann: Woher kommt eigentlich der Weihnachtsmann?
Josef Ritler: Der Zirkus schenkte mir ein Weihnachtserlebnis
Judith Stamm: Alltägliches
Ruth Vuilleumier: Christkindlesmarkt in Nürnberg
Maja Petzold: Oh Tannenbaum