StartseiteMagazinLebensartVerirrt im ewigen Eis - eine Weihnachtsgeschichte

Verirrt im ewigen Eis – eine Weihnachtsgeschichte

Zum Lesen, Vorlesen oder Hören über die Feiertage: Die Erzählung «Bergkristall» von Adalbert Stifter (1805-1868).

Die Erzählung spielt in einem Bergdorf namens Gschaid und dem Nachbarort Millsdorf hinter einem Pass. Die beiden Kinder des tüchtigen Gschaider Schusters, der gegen den Willen des ebenso erfolgreichen Färbers aus Millsdorf dessen Tochter geheiratet hatte, haben an Heilig Abend wie schon öfters ihre Grossmutter besucht und sind noch rechtzeitig vor der Dämmerung auf dem Heimweg. Konrad und Sanna imaginieren bei ihrer Wanderung durch den Schnee das Fest.

Ludwig Richter hat den Frontispiz zur Bergkristall-Erzählung in der Erstausgabe von «Bunte Steine» 1853 gezeichnet.

«Dann geht die Tür auf, die Kleinen dürfen hinein, und bei dem herrlichen, schimmernden Lichterglanze sehen sie Dinge auf dem Baume hängen oder auf dem Tische herumgebreitet, die alle Vorstellungen ihrer Einbildungskraft weit übertreffen, die sie sich nicht anzurühren getrauen, und die sie endlich, wenn sie sie bekommen haben, den ganzen Abend in ihren Ärmchen herumtragen und mit sich in das Bett nehmen. Wenn sie dann zuweilen in ihre Träume hinein die Glockentöne der Mitternacht hören, durch welche die Großen in die Kirche zur Andacht gerufen werden, dann mag es ihnen sein, als zögen jetzt die Englein durch den Himmel, oder als kehre der heilige Christ nach Hause, welcher nunmehr bei allen Kindern gewesen ist und jedem von ihnen ein herrliches Geschenk hinterbracht hat.»

«So weit sie in der Dämmerung zu sehen vermochten, lag überall der flimmernde Schnee hinab, dessen einzelne winzige Täfelchen hie und da in der Finsternis seltsam zu funkeln begannen, als hätte er bei Tag das Licht eingezogen und gäbe es jetzt von sich» (Originaltext). Foto: © E. Caflisch

Die Kinder finden im ewigen Eis Schutz unter Findlingen und versuchen, die Nacht zu überleben. Nicht einschlafen ist das Gebot der Stunde, der ältere Konrad weiss das und versucht, die kleine Schwester wach zu halten. Das gelingt einerseits, indem er ihr seine wärmere Kleidung umlegt und seinen Hut aufsetzt, während er sich mit ihren dünnen Schulter- und Kopftüchern einpackt. Als sie den Kaffee, den die Grossmutter für ihre Tochter mitgegeben hat, selbst trinken, tut das Koffein in dem noch heissen Getränk seine Wirkung. Sie bleiben wach und staunen über den glänzenden Sternenhimmel: Es glänzt und glitzert so schön wie der unerreichbar ferne Weihnachtsbaum.

«Die Nacht brach mit der in großen Höhen gewöhnlichen Schnelligkeit herein. Bald war es ringsherum finster, nur der Schnee fuhr fort, mit seinem bleichen Lichte zu leuchten.» (Originaltext). Foto: © E. Caflisch

Aus beiden Dörfern sind Suchtrupps unterwegs, aber erst bei Tagesanbruch erkennt Konrad einen bewegten Punkt in der Ferne als rote Fahne und schliesslich werden die Kinder von den Eltern umarmt und in einer Hütte aufgewärmt. Die Suchenden – auch Leute aus Millsdorf haben mitgemacht – sind erleichtert. Im Gasthof wird die Rettung gefeiert und debattiert, dass zum Schnee nicht noch ein Sturm kam, dann hätten Sanna und Konrad nicht überlebt. Nach der Rettung wird für sie der Traum vom Tannenbaum und der Bescherung in der Wohnstube zuhause wahr.

Adalbert Stifter: Mondlandschaft mit bewölktem Himmel. Um 1850

Adalbert Stifters Erzählung hat ein übergeordnetes, zweites glückliches Ende: Der Färber, Grossvater der Kinder, betritt erstmals das Haus seiner Tochter und seines Schwiegersohns. Die nächtliche Suche hat nicht nur eine durch Hochmut getrennte Familie, sondern auch zwei verfeindete Dörfer vereint. Diese Moral verpackt der österreichische Dichter in eine realistische Erzählweise, deren Sprache vor allem bei den Landschaftsbeschreibungen überzeugt.

Sternklare Nacht im Gebirge. Foto: Stefan Geisler, pixabay

«Sie kletterten abwärts und kamen wieder in Eis. (…) An dem Eisessaume waren ungeheure Steine, sie waren gehäuft, wie sie die Kinder ihr Leben lang nicht gesehen hatten. Viele waren in Weiß gehüllt, viele zeigten die unteren schiefen Wände sehr glatt und feingeschliffen, als wären sie darauf geschoben worden, viele waren wie Hütten und Dächer gegeneinandergestellt, viele lagen aufeinander wie ungeschlachte Knollen. Nicht weit von dem Standorte der Kinder standen mehrere mit den Köpfen gegeneinander gelehnt, und über sie lagen breite, gelagerte Blöcke wie ein Dach. Es war ein Häuschen, das gebildet war, das gegen vorne offen, rückwärts und an den Seiten aber geschützt war. Im Innern war es trocken, da der steilrechte Schneefall keine einzige Flocke hineingetragen hatte. Die Kinder waren recht froh, daß sie nicht mehr in dem Eise waren und auf ihrer Erde standen. Aber es war auch endlich finster geworden.»

Die glückliche Heimkehr von Konrad und Sanna. «Bunte Steine» Band 2, o.J.

Die Erzählung Bergkristall ist 1853 erschienen und ist Teil der Sammlung Bunte Steine. Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter seine Sammlung von sechs Erzählungen, die jeweils nach einem Stein betitelt wurden. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

Stifters Werk ist im Buchhandel erhältlich, auch die Erzählung Bergkristall liegt in mehreren Ausgaben vom Reclamheft bis zum gebundenen Exemplar mit Illustration auf dem Titel vor. Wer mag, kann die Geschichte am Bildschirm lesen oder bei Librivox hören. 2016 war es in vier Teilen zum Advent eingelesen worden. Die Gesamtlänge des Audiofile beträgt gut zwei Stunden.

Stifter hat seine Manuskripte immer wieder überarbeitet, bevor er ein Gut-zum-Druck gab. Das Original ist im Besitz der Bayerische Staatsbibliothek München

Ich bin übrigens bei der Suche nach Ein bisschen Glanz auf diesen literarischen Bergkristall gestossen. Sogleich kam die Erinnerung an einen der wichtigsten Dichter meiner Studienzeit zurück. So geriet ich beim Suchen im Internet sogar an die handschriftliche Druckvorlage.

Titelbild: Milchstrasse im Gebirge. pinterest

Die Erzählung «Bergkristall» gibt es im Buchhandel und online im Projekt Gutenberg
Und hier ist Mountain Cristal für die anglophone Verwandt- und Bekanntschaft.
Als Audiofile kann man «Bergkristall» in gut zwei Stunden auf Librivox hören. Oder in vier Teilen aus dem Librivox-Adventskalender von 2016.
Für Nerds und Philologie-Fans: Die digitalisierte Druckvorlage

Das ist die zweite Weihnachtskolumne im Magazin von Seniorweb zu «Bergkristall». Vor einem Jahr hat Maja Petzold diese Stifter-Erzählung thematisiert.


Ein bisschen Glanz
Bisher erschienen:

Peter Steiger: Oje du fröhliche TV-Weihnachtswerbung
Maja Petzold: Keine Weihnacht ohne Engel
Bernadette Reichlin: Schön, wenn es glitzert und funkelt
Josef Ritler: Oh Tannenbaum, Oh Tannenbaum wie grün sind deine Blätter
Ruth Vuilleumier: Singen öffnet die Herzen
Beat Steiger: Putzen, bis es glänzt?
Sibylle Ehrismann: Eine Liebesgeschichte
Robert Bösiger: Blütenkelche erhellen den Friedhof
Linus Baur: Mein persönlicher CO2-Fussabdruck
Peter Schibli Eine Familiengeschichte

 

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